Tagesmus und Gezirkumfixe

29. April 2009

Mein HiWi-Job mit Otfrid neigt sich dem Ende zu – eines meiner Fundstücke zum Abschluss:

Verse: 95 Innan thés batun thár \ thie júngoron then méistar,
Verse: 96 tház er thar gisázi \ zi dágamuase inti ázi.

[Indessen baten da die Jünger den Meister, dass er sich dort zum Frühstück hinsetzen und essen möge.]

(Otfrid von Weissenburg, Evangelienbuch 2, Kapitel 14)

Das Frühstück war ein “Tagesmus” und bietet einen schönen Anlass dafür, sich mit dem Wort Mus einmal näher zu befassen. Im Althochdeutschen hieß muos (oder, wie hier, muas geschrieben) noch ‘Essen, Speise, Mus’, vom westgermanischen *môsa– ‘Zukost’. Wahrscheinlich war es eine Ableitung von *mati– Speise’ (darauf geht z.B. das englische meat ‘Fleisch’ zurück). Heute bezeichnet es in der Standardsprache ‘Obstbrei’, regional kann es aber auch für ‘Gemüse’ stehen.

Gemüse ist ein Mus(s)

Ja, genau, Gemüse … das kommt auch von Mus und hieß zuerst ‘Brei, zerkleinerte Nahrung’, dann ‘pflanzliche Nahrung, essbare Pflanzen’. Von Mus zu Gemüse kommt man übrigens ganz leicht, nämlich mit dem Zirkumfix gi-X-i.

Ein “Zirkumfix” ist ein Element, das ein Wort von beiden Seiten umklammert. Da wo ich das X eingesetzt habe, konnten vor langer, langer Zeit einmal alle möglichen Substantive eingesetzt werden. Das so neugebildete Wort hatte auch eine neue Bedeutung: ‘Menge/Gruppe/Gesamtheit von X’. Solche Wörter nennt man daher “Kollektivbildungen” oder “Kollektiva” und man kann sie auch heute noch massenweise im Deutschen finden.1

Berg – Gebirge
Feder – Gefieder
Feld – Gefilde
Schwester – Geschwister
Stern – Gestirn
Wetter – Gewitter
Mauer – Gemäuer
Ast – Geäst
Wasser – Gewässer
Bau – Gebäude
Blut – Geblüt
Fall – Gefälle
Faß – Gefäß
Haus – Gehäuse
Hag – Gehege
Land – Gelände
Pack – Gepäck
Wurz – Gewürz
Zucht – Gezücht

Durch die lange Zeit, die seit ihrer Bildung vergangen ist, haben viele dieser Kollektiva allerdings mittlerweile ganz andere Bedeutungen.

Wenn man sich die beiden Gruppen rechts anschaut, fällt schnell etwas auf: In der ersten Gruppe findet sich im Kollektivum immer ein i, wo in der Ausgangsform ein e steht. Das hat einen einfachen Grund:

Lustiges Lauteheben bei den Westgermanen

Die Westgermanen hatten ein lustiges Lautgesetz namens “Westgermanische Hebung” (oder i-Umlaut”), das besagte: Wenn in der betonten Silbe ein e steht und in der darauffolgenden Silbe ein i, j oder u, dann wird das e zum i.

  1. berg → wird abgeleitet mit dem Zirkumfix: gibergi
  2. gibergi enthält in der betonten Silbe ein e und in der Folgesilbe ein i
  3. Das i verwandelt das e ebenfalls in ein i
  4. Das Ergebnis: gibirgi

Wem das verdächtig nach Assimilation klingt, der hat recht: Das Lautgesetz nennt sich nicht umsonst Hebung. i, j und u, die auslösenden Laute, werden ganz oben im Mundraum gebildet, 2009-04-29-wghebunge, wie man sieht, etwas weiter unten.

Jetzt üben aber die Folgelaute einen enormen Druck auf das e aus, sie brüllen ununterbrochen “Komm her zu mir, komm her zu mir!” und schließlich gibt das e nach. Es lässt sich nach oben heben und wird damit zum i. Ein klarer Fall von vorauseilendem Gehorsam und ein triumphaler Sieg für die faule Zunge.

Was ihr könnt, können wir schon lange!

Ein Blick auf die zweite Gruppe von Wörtern zeigt, dass die Westgermanische Hebung nicht alles erklären kann: Woher kommen all die Umlaute? Aus dem Althochdeutschen! Auch a, o und u wollten sich verändern, also kam es, schwupps, zum Primär- und Sekundärumlaut.2
Die Regel war ganz ähnlich: Wenn in der betonten Silbe a, o oder u standen und in der darauffolgenden Silbe ein i oder j, wurden die Laute zu ä, ö oder ü.

Diesmal ist aber das u kein Auslöser, weshalb man auch nicht von einer Hebung spricht,2009-04-29-umlaut sondern von einer “Palatalisierung”. Das bedeutet, dass die Laute sich in Richtung des Palatums (das ist der harte Gaumen) verschieben, also nach vorne – dahin, wo die auslösenden Laute (i und j) sitzen. Es wird also aus einem hinteren oder zentralen Vokal (rechts der grauen Linie) ein vorderer Vokal (links der grauen Linie), weil ein vorderer Vokal (das i) laut nach Gesellschaft brüllt.

Wir haben also wieder:

  1. ast → wird abgeleitet mit dem Zirkumfix: giasti
  2. giasti enthält in der betonten Silbe ein a und in der Folgesilbe ein i
  3. Das i verwandelt das a in ein ä
  4. Das Ergebnis: giästi

Wie leicht zu erkennen ist, gab es im Althochdeutschen keine totale Assimilation: ä, ö und ü sind dem i nur ähnlicher als a, o und u, sie sind nicht mit ihm identisch. Daher nennt man den Vorgang auch “partielle Assimilation”.

Das e in Gehege war übrigens auch mal ein a, es liegt also auch ein Umlaut vor. Warum man es nicht als ä schreibt, ist aber eine andere Geschichte.

Der Narr hat seine Schuldigkeit getan …

Jaja, das auslösende i in der Folgesilbe – wo ist es eigentlich hin? Im Mittelhochdeutschen gab es in den unbetonten Silben ein großes Vokalsterben: Nach und nach wurden alle Vokale abgeschwächt, bis sie am Ende nur noch [ə] waren, wie in gesagt. In vielen Fällen ist dieser reduzierte Laut dann völlig weggefallen. Der Prozess heißt Nebensilbenabschwächung und hatte weitreichende Folgen für das komplette Sprachsystem, aber dazu ein andermal. Jetzt gehe ich mein Nachtmus essen.

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[Filmtipp] The Linguists

27. April 2009

Ich habe ja schon mal ein Interview mit David Harrison verlinkt, der bedrohte Sprachen erforscht. Über ihn und seinen Kollegen Gregory Anderson (der furchtbar viel lacht) gibt es einen Dokumentarfilm namens The Linguists. Es geht darin vor allem darum, wie die beiden die Sprecher der aussterbenden Sprachen finden und mit ihnen interagieren – in Sibirien, Bolivien, Indien und den USA. Das Language Log hat darauf hingewiesen, dass man den Film jetzt (“nur für kurze Zeit”) online gucken kann, was ich natürlich gleich getan habe. Dagegen ist meine geplante Feldforschung mit den Alemannen sehr unexotisch …

2009-04-27-thelinguists

Zum Anschauen einfach auf das Bild klicken oder, falls es nicht klappt, den Film auf babelgum.com heraussuchen. Bei mir lief er nur im Internet Explorer.


Falsche Freunde und wahre Worte

25. April 2009

2009-04-25-fauxamisKürzlich habe ich eine schöne Liste mit falschen Freunden aus dem Mittelhochdeutschen gefunden. “Falsche Freunde” kennt wahrscheinlich jeder aus der Schule – Wörter, die sich täuschend ähnlich sehen/täuschend ähnlich klingen, aber völlig verschiedene Bedeutungen haben. Meistens entstehen sie dadurch, dass zwei Sprachen ein und dasselbe Wort unterschiedlich behandeln – es kommt zu Bedeutungsveränderungen, die nicht parallel verlaufen. (So macht z.B. das Englische aus einem germanischen Wort etwas anderes als das Deutsche, vergleiche gift ‘Geschenk’ und Gift.) Oder aber eine Sprache entlehnt ein Wort und es bekommt eine leicht (oder radikal) andere Bedeutung. (So z.B. ein französisches Lehnwort im Deutschen.)

“Falsche Freunde” im Mittelhochdeutschen sind eigentlich nur die Vorgänger unser heutigen Wörter, bevor sie all die Bedeutungsverschiebungen durchgemacht haben. Die Gefahr, dass wir sie in ihrer heutigen Bedeutung verstehen ist natürlich besonders groß, weil es sich ja um eine Vorstufe des heutigen Deutschen handelt und es erstaunlich oft ganz gut klappt, die neuhochdeutsche Bedeutung zu nehmen.

Ein paar willkürliche Beispiele aus der Liste, wie immer mit einer Verneigung vor Kluges Etymologischem Wörterbuch:

Mit den Sinnen denken

Das mittelhochdeutsche betrahten ‘bedenken, erwägen, ausdenken’ bekam im Frühneuhochdeutschen den Bedeutungszusatz ‘beim Anschauen erwägen’, machte also eine Bedeutungsverengung mit. Schließlich nahm der Aspekt des Anschauens überhand, sodass betrachten heute ‘anschauen’ heißt. Das Element des Nachdenkens findet man noch im Wort Betrachtungen. Solche Bedeutungsverschiebungen passieren sehr häufig mit Wahrnehmungsverben und Verben, die kognitive Vorgänge beschreiben (begreifen und erfassen z.B. kommen aus der anderen Richtung, sie bezeichneten ursprünglich das konkrete Anfassen, beziehen sich jetzt aber auf das Verstehen).

My home is my castle

ellende ‘fremdes Land, Fremde’ ist tatsächlich der Ursprung für unser heutiges Elend. Das Wort Land steckt sogar noch drin: Im Westgermanischen gab die Bildung *alja-landja- ‘außer Landes seiend’. Im Althochdeutschen fällt der Umlaut über das Wort her und macht elilenti daraus.1

Im Ausland zu sein war einstens kein Spaß, meist war man da, weil man verbannt war – und so kam es, dass das Wort die Bedeutung ‘Unglück, Jammer’ annahm. Es hat also eine Bedeutungsverschlechterung mitgemacht.

Das ist nicht witzig!

Das Wort witze heißt im Mittelhochdeutschen ‘Wissen, Verstand, Besinnung, Einsicht, Klugheit, Weisheit’. Es ist eine Ableitung von wissen. Im 17. Jahrhundert hat das französische Wort esprit auf den Witz eingewirkt, das sich in der Bedeutung mit ihm überschnitt, aber zusätzlich das ‘geistreiche’ Element besaß. (Das nennt man Lehnbedeutung: Ein vorhandenes Wort entlehnt eine Bedeutung von einem Wort aus einer anderen Sprache.) So bekam Witz bald die Bedeutung ‘geistreiche Formulierung’ und im 18. Jahrhundert mussten Witze nicht mehr geistreich sein, das Wort hieß nur noch ‘Scherz’. So kann der Intellekt in den Schmutz gezogen werden … der Untergang des Abendlandes ist nahe …

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Schuttertal revisited

23. April 2009

(Ergänzungen zu: Am Pascal seine Mutter | Werbehefter für Motogrossrennen)

Nachdem ich gestern – nicht primär für das Schplock – eine Stunde vor dem Regal mit Dialektbeschreibungen in der Institutsbibliothek gestanden habe, gibt es noch ein paar Kleinigkeiten zum Alemannischen nachzutragen, lustigerweise aus einem Buch, das Lehrerinnen helfen soll, Dialekteinflüsse aus dem Alemannischen zu erkennen und die Schüler dafür zu sensibilisieren. Darin werden Schülerfehler analysiert und erklärt, also sehr ähnlich wie das, was ich hier gemacht habe. Dann mal los:

Am Pascal seine Mutter …

… scheint ein beliebter Fehler zu sein. Zur Erinnerung: dem wird dialektal so ausgesprochen, dass es nur noch wie äm oder am klingt, weshalb das Kind hier am Pascal statt dem Pascal geschrieben hat. (Dass die Namen Artikel haben, ist ja auch über das Alemannische hinaus verbreitet.)

Das Buch hat ein Beispiel, in dem es eigentlich um die falsche Flexion von Herrn geht, wo es auch zu einer solchen Reinterpretation kam:

(1) wir wollten im Herr Lehrer die Hose zunähen ‚wir wollten dem Herrn Lehrer die Hose zunähen‘

Der reduzierte Vokal vor dem [m] wurde hier als [i] analysiert, in meinem Pascal-Beispiel als [a], aber der Effekt ist sehr ähnlich.

Werbehefter für Motogrossrennen

Das Büchlein gibt noch eine ganz ordentliche Ausbeute an Substantiven her, die im Alemannischen den Plural mit –er bilden, im Hochdeutschen aber nicht. Im Originalbeitrag habe ich ja schon Heft Hefter und StückStücker genannt, die kommen in der Liste auch vor, und zusätzlich gibt es:

  • Stein – Steiner
  • Seil – Seiler
  • Bein – Beiner
  • Ding – Dinger
  • Geschenk – Geschenker
  • Scheit – Scheiter
  • Bett – Better
  • Geschäft – Geschäfter
  • Hemd – Hemder
  • Spiel – Spieler
  • Gewicht – Gewichter
  • Mensch – Menscher
  • Geschmack – Geschmacker (kommt mir ohne Umlaut seltsam vor)
  • Unglück – Unglücker
  • Schicksal – Schicksaler (kommt mir ohne Umlaut seltsam vor)
  • Gewehr – Gewehrer
  • Geschirr – Geschirrer
  • Hag – Häger
  • Brot – Bröter
  • Ross – Rösser
  • Ort – Örter

Nicht alle davon verwendet man im Schuttertal, aber sehr viele kommen mir sehr vertraut vor.


Dagegen ist kein Mittel gewachsen

22. April 2009

Auf der Fahrt zur DGfS-Tagung im März fiel mir folgendes “Faltblatt Ihr Reiseplan” in die Hand:
mittelgewachsen1

Es dauerte eine ganze Weile, bis mir klar wurde, woher mein Unbehagen stammte: Statt kein Kraut gewachsen steht in der Werbeanzeige kein Mittel. Seltsam, zumal es um ein pflanzlich basiertes Mittel geht, Kraut also vollkommen angemessen gewesen wäre. Lange habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, ob es nun Absicht (dazu schien es mir zu unauffällig) oder ein Versehen (dazu schien es mir zu professionell) war. Oder ob sich die Wendung gar verändert? Letzteres ist schnell überprüfbar, eine kurze Googelei führt zu 39 Treffern1 für “kein Mittel gewachsen” – ein paar Kostproben:

Die Suche nach “kein Kraut gewachsen” erzielt hingegen 38.500 Treffer – sieht also so aus, als sei es eher ein Versprecher/Verschreiber als ein Wandelprozess. Wie kamen die Leute aber auf Mittel, warum wird die Vertauschung doch relativ häufig gemacht?

Wahrscheinlich hat das mit anderen Wendungen zu tun, die etwas ähnliches ausdrücken wie dagegen ist kein Kraut gewachsen, z.B. da(gegen) hilft kein Mittel, es gibt kein Mittel gegen X, etc. Die große inhaltliche Ähnlichkeit führt dazu, dass Kraut leicht gegen Mittel ausgetauscht werden kann. Das nennt man “Kontamination”. Weitere Beispiele2 sind:

(1) Sei mir nicht übel. < Sei mir nicht böse + Nimm’s mir nicht übel

(2) Er ist mit auf die Pelle getreten. < Er ist mir auf die Pelle gerückt + Er ist mir auf die Füße getreten

Das Weleda-Rätsel ist übrigens gelöst, das Unternehmen hat mir auf eine Anfrage geantwortet:

Es wurde in der Werbeanzeige für Ferrum phosphoricum comp. absichtlich „Kraut“ durch „Mittel“ ersetzt, weil es ein wenig irritiert wodurch die Aufmerksamkeit erhöht wird.

Traurige Nachrichten, macht mich das doch zum unwilligen Werkzeug der Werbekampagne. Glücklicherweise ist die Erkältungssaison erstmal vorbei, sodass sich hier hoffentlich auch niemand beworben fühlt.

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