Wir gedenken an den Tod von Jesus

Spiegel online berichtet darüber, dass ein Pfarrer eine Todesanzeige für Jesus geschaltet hat und zur Gedenkfeier einlädt. So weit, so trivial. Allerdings ist der Text mit einem Bild der Anzeige illustriert, und das fand ich spannend. Da heißt es nämlich:

Wir gedenken an den Tod von

Jesus Ben Josef

genannt der “König der Juden”
*04 v. Chr. †34 n. Chr.

Das Verb gedenken in der Bedeutung ‘sich ehrfurchtsvoll erinnern an’ geht in meinem Kopf nämlich nur mit einem Objekt im Genitiv oder Dativ zusammen, also Wir gedenken des Todes von … oder Wir gedenken dem Tod von … Letzteres noch nicht ganz so salonfähig, aber ich prognostiziere gute Aussichten, weil wir generell Genitivobjekte abbauen. (Auch wenn sich der unsägliche Bastian Sick dabei im Grab umdr darüber geifernd ereifert.)

Erster Gedanke also: Man hat hier an denken oder die Wendung in Gedenken an gedacht und Konsequenzen daraus gezogen. Zweiter Gedanke: Stop! Wer weiß, das kann auch alt sein. Die meisten sprachlichen Phänomene erweisen sich ja bei näherer Betrachtung als viel älter als vermutet. Das Language Log hat dafür die schöne Bezeichnung recency illusion.

Wo schaut man alte Sachen nach? Ich habe das Grimmsche Wörterbuch herangezogen und bin tatsächlich fündig geworden.

Ein Wort, viele Bedeutungen

Zunächst einmal lässt sich gedenken in mindestens drei Teilbedeutungen trennen:

  • die Erinnerungsbedeutung, um die es hier geht,
  • der einfache Denkbedeutung, die heute nicht mehr gebräuchlich ist und
  • die Absichtsbedeutung (Ich gedenke nicht zum Gottesdienst zu gehen).

Während die Erinnerungsbedeutung heute ziemlich stark darauf eingeschränkt ist, Verstorbenen oder abstrakten Ereignissen zu gedenken, ist sie im Grimmschen Wörterbuch noch nicht so speziell erfasst. Unter 6) wird da angegeben: “zurück denken, sich erinnern, eingedenk sein”.

Ein gar nicht monogames Verb

In dieser Bedeutung nimmt das Verb in erster Linie den Genitiv:

aber gedenk meiner, wenn dirs wol gehet. (1 Mose 40,14)
‘aber erinnere dich an mich, wenn es dir gut geht’

Nicht gerechnet hatte ich mit einem blanken Akkusativ, aber seht selbst (besonders beliebt war das wohl mit es):

ich gedenks wol.
‘ich erinnere mich gut daran’

Und … ja … auch die an-Präpositionalphrase macht mit, früheste Belege im 16. Jahrhundert:

gedenk an uns.
‘erinnere dich an uns’

er gedacht an sein heiliges wort (Ps 105,42)
‘er erinnerte sich an sein heiliges Wort’

Biblische Gedenkereien

Gerade das letzte Beispiel ist super, weil aus der vielfach neu übersetzten oder aktualisierten Bibel. Ich habe mir diesen Psalm einmal genauer angesehen. Von gedenken ist darin dreimal die Rede. In der Lutherbibel (1545) sind zwei der Stellen mit an, eine mit Genitiv:

  1. Gedencket seiner Wunderwerck / die er gethan hat / Seiner Wunder vnd seines Worts (Vers 5)
  2. Er gedenckt ewiglich an seinen Bund (Vers 8)
  3. Denn er gedacht an sein heiliges Wort (Vers 42)

Das schreit danach, die ganze Lutherbibel systematisch zu durchsuchen (gibt’s ja elektronisch), ich verzichte aus Zeitgründen mal darauf. Was ich aber stattdessen gemacht habe, ist eine kurze Suche in anderen Bibelübersetzungen. Die beiden anderen Bibeln des 16. Jahrhunderts, die ich gecheckt habe, zeigen ebenfalls an-Konstruktionen.

So hat die Zürcher Bibel von 1534 (dort ist es Psalm 104):

  1. Gedenckend an seine grosse wunderthaten / an die wunder die er gethon hat: vnd an die vrteil die er mitt seinem mund gesprochen hat
  2. & 3. sind anders übersetzt (mit eingedenk sein)

Und Dietenberger 1534 (aber hier nach einer Ausgabe von 1556, und ebenfalls Psalm 104) zeigt die gleiche Verteilung wie Luther:

  1. Gedenckt seiner wunderwerck / die er gethan hatt / seiner wunderwerck vnd gerichten seines munds
  2. Er gedenckt ewiglich an seinen bund
  3. Denn er gedacht an sein heiliges Wort

Modernere Übersetzungen wie die Elberfelder Bibel (1871) haben i.d.R. zugunsten dem des Genitivs eingegriffen, alle drei Stellen sind an-frei. Ebenso die Menge-Bibel (1939). Aber das muss nicht immer so sein: In der Schlachter-Bibel (1905) ist alles be-an-t!

Wirklich aktuelle Fassungen haben sich des Verbs dann völlig entledigt, denn in keinem der drei Kontexte würde man heute noch ernsthaft gedenken benutzen. So nimmt die Einheitsübersetzung (1970er/80er) denken an, die Gute Nachricht (1997) erinnern an bzw. ganz andere Formulierungen.

Und heute?

Okay, langer Exkurs, zurück zur Jesus’schen Todesanzeige: Der Verfasser ist evangelischer Pfarrer, es könnte also gut sein, dass er vom lutherbiblischen an beeinflusst wurde. Genauso kann es sich aber um eine neue, davon unabhängige Entwicklung handeln, oder gar einfach um einen Fehler.

Ich habe mal im DWDS-Kernkorpus (1900-1999) nach gedenken an gesucht („gedenken #5 an“ und „an #5 @gedenk*“ ) und die Treffer manuell durchkämmt, um zu testen, ob so etwas schriftsprachlich vorkommt. Das Ergebnis: 5 Stellen, die aktuellste von 1955:

1955: In Ehre gedenken wir alle an seinen parteiverbundenen Charakter (Klemperer, [Tagebuch] 1955, S. 490)

1922: … wir … fuhren den Nachmittag durch die Dardanellen hindurch, an Leander gedenkend, … (Deussen, Mein Leben, Leipzig, S. 19074)

1911: Mit jenem warmen Gefühl aber im Herzen, womit wir an Großmutter und Großvater gedenken, ... (Harms, Bei den Veteranen der Technik, in: Berliner Tageblatt (Abend-Ausgabe) 03.03.1911, S. 2)

1907: Grüß mir meinen lieben Andreas und all die Andren, an die ich so gerne gedenke. (Brief von Wilhelm Busch an Grete Thomsen vom 12.05.1907, S. 5766)

1904: Jeden Abend, wenn ich mein Täßchen trinke, werd ich dabei dankbar an Frankfurt gedenken. (Brief von Wilhelm Busch an Johanna Keßler vom 15.12.1904, S. 5625)

Alle Belege mit Ausnahme des Zeitungsartikels stammen aus privaten Dokumenten – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Verwendung eher mündlicher Natur war? (Oder darauf, dass das Korpus zu klein ist …) Die beiden Busch-Belege haben meiner Meinung nach auch noch nicht den ehrenvollen Zusatz, hier handelt es sich eher um die weite Erinnerungsbedeutung.

Obwohl das DWDS keine aktuelleren Treffer liefert, finden sich auch heute massenhaft Verwendungen von gedenken an, wie eine schnelle Google-Suche mit der Einschränkung auf das letzte Jahr zeigt. Willkürlich herausgegriffen:

Wir gedenken an die Opfer dieses Unglückes und hoffen, dass der Zustand sich bald möglichst verbessert. (Quelle)

Wir gedenken an die Toten. (Quelle)

Wir Gedenken an unseren Freund und Bekannten. (Quelle)

Wir gedenken an all die schönen Augenblicke, die Ihr uns geschenkt habt. (Quelle)

Diese Formen existieren also, und sie werden von so vielen Menschen verwendet, dass man sie nicht als einzelne Fehler abtun kann. Ob es sich um eine die ganze Zeit bewahrte ältere Variante oder um eine neue Entwicklung handelt, oder gar um beides, d.h. dass eine seltenere Variante an Verwendungshäufigkeit gewinnt, vermag ich momentan leider nicht zu sagen. Wenn ich nicht für heute genug gedacht hätte, würde ich mir den Spaß noch bei Cosmas II anschauen und zudem gedenken mit Dativ heranziehen – so aber verabschiede ich mich in die Osterfeiertage!

32 Responses to Wir gedenken an den Tod von Jesus

  1. lukas sagt:

    „gedenken“ mit „an“ kannte ich nur aus der Sprache evangelischer Sonntagspredigten, ist mir aber schon immer seltsam vorgekommen. Interessant, dass das auf Luther zurückgeht.

  2. Ludwig Trepl sagt:

    „Der Verfasser ist evangelischer Pfarrer, es könnte also gut sein, dass er vom lutherbiblischen an beeinflusst wurde.“
    Das können wir getrost ausschließen. Viel wahrscheinlicher ist, daß er vom Internetdeutschen beeinflußt ist.

    • Kristin sagt:

      Das klingt mehr nach sprachpessimistischem Populismus als nach Wissenschaft – gibt es dafür einen Anhaltspunkt? Und was ist eigentlich „Internetdeutsch“?

      • Ludwig Trepl sagt:

        Wissenschaft ist es in der Tat nicht – ich habe von der hierfür zuständigen Wissenschaft nicht die geringste Ahnung. Sprachpessimistisch ist es; ich sehe für Sprachoptimismus zur Zeit keinen Grund. Aber wieso soll des deshalb populistisch sein? Ist es in Zeiten rasanter Neuerungen nicht eher populistisch, Neuerungen zu bejubeln?
        Mit Internetdeutsch meine ich den Jargon, dem man vorwiegend auf deutschsprachigen (oder sich so nennenden) Internetseiten begegnet. Da scheint mir die Wahrscheinlichkeit am größten, auf Wendungen wie „wir gedenken an den Tod“ zu stoßen; das ist natürlich nicht wissenschaftlich abgesichert, nur mein Eindruck.
        Daß der Autor nicht von der Lutherbibel-Sprache beeinflußt ist, dafür scheint mir sehr zu sprechen, daß er eine Todesanzeige für Jesus, noch dazu „Jesus Ben Josef“ „schaltet“.
        Im Übrigen halte ich es nicht für richtig, die heute massenhafte (stimmt das denn? mir ist ist ihn Ihrem Blog zum ersten Mal gebegnet) Verwendung von „gedenken an“ als ein Argument dafür zu nehmen, daß es sich nicht um einen Fehler handeln kann. Mir und mich wurden und werden wohl noch massenhaft verwechselt, und doch hat niemand daraus abgeleitet, daß das deshalb richtig ist. Auch die Verwendung in alten Texten macht eine Formulierung nicht unbedingt richtig. „Und satzten sich bei die Knechte“ (oder heißt es „zu die?“) war zu Luthers und zu Bachs Zeiten richtig, heute ist es falsch.

  3. Kristin sagt:

    Vielen Dank für die lange Antwort! Ich versuche mal auf einige Punkte einzugehen und bin gespannt, was Sie dazu sagen!

    Populistisch finde ich Ihren ersten Kommentar eben deshalb, weil er Pessimismus verbreitet. Sprache verändert sich erst dann nicht mehr, wenn sie nicht mehr gesprochen wird. Das galt schon immer und ich wage zu behaupten, dass es auch immer gelten wird. Darin sehe ich keinerlei Grund zur Verzweiflung.

    Die weit verbreitete Haltung, dass ein willkürlich herausgegriffener Jetztzustand das ideale Deutsch darstellt und mit allen Mitteln erhalten werden muss, erscheint in diesem Licht seltsam.

    Ich kann gut verstehen, wie sie zustandekommt: Wir besitzen einen schriftsprachlichen Standard. Das finde ich absolut sinnvoll und notwendig und ich glaube daran wird auch niemand rütteln wollen.
    Wo die Sprachwissenschaft nun aber vom (scheint mir) Großteil der öffentlichen Meinung abweicht, ist in der Frage, wie unverrückbar ein solcher Standard ist.

    Wenn man sich seinen Ursprung ansieht, wird klar, dass er nicht vom Himmel gefallen ist, sondern in einem langen Ausgleichsprozess verschiedener Schriftdialekte entstand.
    Und es wird auch schnell klar, dass sich seit der Einführung einer schriftsprachlichen Norm schon wieder vieles daran geändert hat.

    Eine schriftsprachliche Norm bildet also den Schriftsprachgebrauch zu einer bestimmten Zeit ab. Deshalb ist der Duden zunächst einmal deskriptiv (was Sie ja in ihren Anweisungen für Studierende monieren). Was in der Schule als „Regel“ vermittelt wird, ist das, was sich aus dem Gebrauch vieler als das Übliche herauskristallisiert hat.

    Wenn sich nun sprachliche Änderungen vollziehen, so beginnen sie immer zunächst einmal als „Fehler“: Sie folgen nicht der bestehenden Norm. Manche dieser Fehler haben aber Potenzial: Sie vereinfachen etwas (z.B. die Aussprache oder die Wortstruktur), sie machen etwas regelmäßiger, sie machen etwas kürzer und damit praktischer, sie machen etwas länger und damit deutlicher … kurz, sie haben irgendeinen Vorteil und werden deshalb von mehr als nur einer Person gemacht.
    Und wenn sie irgendwann von unglaublich vielen Menschen gemacht werden, ist es schwer zu rechtfertigen, noch von Fehlern zu sprechen.
    Sie entsprechen zwar nicht der geltenden Norm, wie sie noch in Grammatiken zu finden ist – aber das heißt eben, dass die Norm nicht aktuell ist, nicht, dass die Sprecher allesamt danebenliegen. (Das gilt genauso natürlich für Dinge, die ungebräuchlich werden – in der Regel passiert das ja, weil man einen praktischeren/schöneren/… Weg gefunden hat o.ä.)

    In solchen Fällen wird auf der Seite der Grammatikschreibung meist für einen sanften Übergang gesorgt: Die alte Regel wird um die neue Variante ergänzt, idealerweise mit der Angabe, was davon neuer ist und wie anerkannt es schon ist, sodass man sich entscheiden kann, ob die neue Variante z.B. schon in einem offiziellen Schriftstück erscheinen kann, oder dafür noch nicht genug Akzeptanz hat.
    Das macht der Grammatikduden so und das macht auf ganz wundervolle Weise der Dudenband „Richtiges und gutes Deutsch“ so. Der schreibt nämlich nicht vor, wie man zu schreiben und zu sprechen hat, sondern er erläutert Zweifelsfälle des Sprachgebrauchs und macht klar, woher sie kommen und welchen Status sie haben.

    Die Feindseligkeit, die Sprachwandel oft entgegengebracht wird, und zwar ganz besonders aus Akademikerkreisen, ist meiner Meinung nach reiner Bildungsdünkel. Man hat diesen Code der „richtigen“ Sprachverwendung gelernt, und nun besteht man auf seiner Einhaltung und grenzt sich durch die „korrekte“ Verwendung von denen ab, die ihn nicht beherrschen.

    *puh* Okay, weiter zum „Internetdeutsch“:
    Ich würde diesen Sprachgebrauch nicht als Internetphänomen betrachten (Sprachwandel im Deutschen ging die letzten tausendnochwas Jahre ganz wunderbar ohne Internet), aber vielleicht meinen wir ja dasselbe, nämlich dass dieser Sprachgebrauch durch das Internet besonders sichtbar werden kann.
    Schriftsprache gab es vor dem Internet eben vor allem als lektorierte Schriftsprache in Zeitungen, Büchern etc., oder als private Schriftsprache in Briefen, Tagebüchern etc. Auf diesen privaten Schriftsprachgebrauch hatte man viel weniger Zugriff als heute.
    Das Internet als Medium zwischen gesprochener und geschriebener Sprache lässt mehr Variation und mehr Umgangssprache zu, es lässt jeden zur Sprache kommen, der will.
    Entsprechend finden sich hier viele Phänomene, die vorher „unsichtbar“ waren.

    Ihr Argument zur Sprache des Pfarrers verstehe ich nicht so recht. Wollen Sie sagen, dass nur ein internetbeeinflusster Mensch eine solche Todesanzeige schalten würde? Warum? Die Todesanzeige ist eine gute alte Textsorte, ich hätte mir hier progressivere Methoden vorstellen können. (Man denke an den Twitter-Account von Josef von Nazareth.)

    Okay, ich belasse es einmal hierbei und freue mich auf eine weitere Diskussion!

    • Ludwig Trepl sagt:

      Liebe Kristin,

      meine Antwort wird hoffentlich nicht noch länger werden als Ihre Antwort auf meine.

      „Populistisch finde ich Ihren ersten Kommentar eben deshalb, weil er Pessimismus verbreitet.“ Populismus kann sowohl Pessimismus als auch Optimismus verbreiten. Populistische Politiker der 50er und 60er Jahre hatten ein Lieblingsargument: uns geht es gut und es wird von Tag zu Tag besser. – Natürlich, das gebe ich zu, kann man auch in populistischer Weise an Minderheiten, etwa an hinsichtlich des Sprachwandels Konservative, appellieren, Populismus muß nicht heißen, sich der „schweigenden Mehrheit“ anzubiedern.

      „Wo die Sprachwissenschaft nun aber vom (scheint mir) Großteil der öffentlichen Meinung abweicht, ist in der Frage, wie unverrückbar ein solcher Standard ist.“ Großteil? Das glaub ich nicht. Jeder weiß doch, daß man vor 300 Jahren anders gesprochen hat als heute und keiner meint, daß die damals falsch gesprochen haben. Das ist keine Erkenntnis der Sprachwissenschaft, sondern Alltagswissen.

      „Deshalb ist der Duden zunächst einmal deskriptiv (was Sie ja in ihren Anweisungen für Studierende monieren)“. Welche Anweisungen meinen Sie da? Und: Meine Auffassung ist da schon komplizierter, siehe http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/03/erhalt-und-erhaltung-teil-2.html. Ich sage: Der Duden ist nicht nur deskriptiv, denn was er für allzu falsch hält, nimmt er nicht auf. Er nimmt aber auch Dinge auf, die er nicht aufnehmen sollte. Selbst wenn er sich als völlig deskriptiv verstehen sollte (was er ja nicht tut), so wirkt er doch präskriptiv, das sollte er bedenken und etwas vorsichtiger sein.

      „Wenn sich nun sprachliche Änderungen vollziehen, so beginnen sie immer zunächst einmal als „Fehler“: Sie folgen nicht der bestehenden Norm.“ – Meist, aber nicht immer. Nicht wenige solcher Änderungen sind von vornherein Verbesserungen, etwa manche Wörter, die einem Dichter oder einer Stammtischbesatzung zu vorgerückter Stunde einfallen und die einfach nur genial sind. Aber das betrifft nicht nur Wörter. Wie das Genie Regeln in der Kunst schafft, so oft auch in der Sprache. Diese Regeln müssen nicht falsch sein aus der Sicht dessen, was vorher war (auch wenn sie das wohl meist sind), sie können auch etwas von vornherein Richtiges sein, auf das bisher nur keiner gekommen ist.

      „Sprache verändert sich erst dann nicht mehr, wenn sie nicht mehr gesprochen wird. Das galt schon immer und ich wage zu behaupten, dass es auch immer gelten wird. Darin sehe ich keinerlei Grund zur Verzweiflung.
      Die weit verbreitete Haltung, dass ein willkürlich herausgegriffener Jetztzustand das ideale Deutsch darstellt und mit allen Mitteln erhalten werden muss, erscheint in diesem Licht seltsam.“
      Gewiß. Aber wer aus dem deskriptiven Satz, daß die Sprache sich ändert, den normativen ableitet, daß das so sein soll oder daß gegen eine bestimmte Veränderung deshalb nichts einzuwenden ist, weil sich die Sprache nun einmal verändert – eine sehr verbreitete Meinung -, der begeht einen Sein-Sollen-Fehlschluß. Wer dagegen sagt, „dass ein willkürlich herausgegriffener Jetztzustand das ideale Deutsch darstellt und mit allen Mitteln erhalten werden muß“, macht nicht einen logischen Fehler dieses Kalibers. Er handelt sich aber doch ein dickes Problem ein: Er erkennt an, daß es bessere und schlechtere Zustände der Sprache gibt und ist doch dagegen, den derzeitigen Zustand zu verbessern. Dafür kann er nur Bequemlichkeitsargumente anführen, und die sind etwas schwach. Aber ganz verwerflich sind sie nicht: Es ist teilweise sehr berechtigte Notwehr. Ich möchte nicht, daß der Wandel so schnell geht, daß ich nicht mehr mitkomme. Und ich komme seit etwa einem oder zwei Jahrzehnten mit dem Tempo nicht mehr so recht mit; das betrifft nicht nur die Anglifizierung.
      Daß sich die Sprache verändert, heißt nicht, daß jeder Zustand gleich gut ist. Der Zustand der deutschen Sprache, das möchte ich in Übereinstimmung mit den Bildungsbürgern, die Sie nicht mögen, behaupten, war zu Beginn des 18. Jahrhunderts schlechter als gegen Ende. Dem Sprachwandel im Verlauf des 18. Jahrhunderts stehen weder ich noch die von Ihnen angeführten „Akademikerkreise“ feindselig gegenüber. In der Kaiserzeit war der Zustand der Zustand erbärmlich, und die Sprache eines Provinz- oder Boulevardjournalisten ist schlechter als beispielsweise die eines auch nur durchschnittlichen Zeit-Journalisten. Am derzeitigen Sprachwandel stört mich nicht, daß sich die Sprache wandelt, sondern wie sie sich wandelt und warum. Natürlich, das kann ich nicht leugnen, gefällt mir manches nur deshalb besser, weil ich es gewohnt bin.
      Man muß, meine ich, vor allem zwei Dinge beachten:
      (1) Den Unterschied zwischen „Fehlern“, die nur darauf beruhen, daß Konventionen nicht eingehalten werden, und Fehlern, die dies deshalb sind, weil etwas anderes gesagt wird als gesagt werden soll. Paradebeispiel für ersteres ist der sogenannte sächsische Genitiv. Es ist nur Konvention, daß da kein Apostroph zu stehen hat, niemand muß sich daran halten, es ist deppenhaft, den Apostroph Deppenapostroph zu nennen, wie es ja geschieht. Ein Beispiel für letzteres ist, „Studierende“ zu schreiben, wo „Studenten“ gemeint ist, denn dann ändert sich der Sinn des Satzes, es steht etwas anderes da, als dastehen soll. Noch schöner sieht man’s an der Verwechslung von Erhalt und Erhaltung (ein sehr eindrückliches Beispiel siehe http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/02/erhalt-und-erhaltung.html). Natürlich kann, das schreiben Sie ja auch, ein Fehler irgendwann einmal kein Fehler mehr sein. Allerdings ist das nicht bereits dann der Fall, wenn irgendwelche Mehrheiten ihn akzeptieren. Die zählen auf unserem Gebiet nicht (siehe http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/03/erhalt-und-erhaltung-teil-2.html).
      (2) Man sollte darauf achten, aus welchem Grund vom bisher Geltenden abgewichen wird. Und hier zeigt sich der eigentliche Jammer der derzeitigen Veränderungen. Es gibt natürlich Neuerungen, die genial sind und hinter denen keine niederen Beweggründe zu finden sind. Aber hinter dem Allermeisten stecken eben niedere Beweggründe. Meist geht es darum, sich aufzublähen. Fast alle Anglizismen, die sich überschlagenden Super-Superlative und fast wie alle Besonderheiten des Politikerjargons erklären sich so und nur so. Das vor allem, weniger die Unfähigkeit, den wahren Sinn etwa eines hingerotzten Satzes zu erkennen, rechtfertigt Bezeichnungen wie Dumm- oder Deppendeutsch.

      „Was in der Schule als „Regel“ vermittelt wird, ist das, was sich aus dem Gebrauch vieler als das Übliche herauskristallisiert hat.“ Nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Auch das Übliche ist oft falsch, und nur wenige merken das.
      Ich glaube, Sie unterschätzen die Relevanz der Objektivität der Sprache. In http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/03/erhalt-und-erhaltung-teil-2.html habe ich einen Vergleich mit der Mathematik gebracht. Das ist natürlich überzogen, aber das Wesentliche kann man daran gut sehen: Was richtig ist, ist keine Sache der Konvention (auch wenn die Konvention dabei mitspielt), weder der informellen durch „das Übliche“ noch der formellen durch ein autorisiertes Gremium wie in Frankreich. Kaum eine Konvention dieser oder jener Art, die nicht bei ihren Festlegungen bemüht ist (leider nicht selten vergeblich), das Richtige zu treffen, also der Idee folgt, daß es die sprachliche Richtigkeit als etwas Objektives gibt und daß man das Richtige erkennen muß – fast wie in der Mathematik oder der Naturwissenschaft.

      Zur Internetsprache. An ihr ärgert mich vor allem folgendes: Sie schreiben: „Entsprechend finden sich hier viele Phänomene, die vorher „unsichtbar“ waren.“ – Ja, gewiß. Es kann durchaus sein, daß früher das Niveau des Geschriebenen nicht so viel unter dem heutigen lag, wie man im allgemeinen meint, daß das nur nicht zu sehen war, weil der bei weitem größte Teil des Geschriebenen in privaten Briefen stand. Aber das ist es eben: Wer sich öffentlich schriftlich äußerte, bemühte sich wenigstens um einen einigermaßen korrekten Gebrauch der Landessprache, und meist gelang das in den Briefen ja auch recht gut. Seit es das Internet gibt, sind alle Hemmungen weggefallen. Man schreibt da nicht einfach Umgangssprache. Ich kenne niemanden, der so spricht, wie man da schreibt. Es ist zum Großen Teil einfach nichts als Gegrunze.

      Damit es nicht gar zu lang wird, hebe ich mir einige Punkte auf für die Antwort auf Ihre Antwort, die hoffentlich bald kommt. Nur noch eine Bemerkung zu dem Pfarrer: Ich meine diesen Typus zu kennen. Natürlich, „die Todesanzeige ist eine gute alte Textsorte“, aber eine Todesanzeige für Jesus nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ein Pfarrer klassisch-protestantischen Zuschnitts, der in der Luthersprache denkt, auf eine solche Idee kommt.

      Beste Grüße

      Ludwig Trepl

      • Marlene sagt:

        Sehr geehrter Herr Trepl,

        ich verspüre gerade das Bedürfnis, mich in Ihre Diskussion mit Kristin einzuschalten, weil mich die deutsche Sprache schon immer sehr fasziniert hat – auch wenn ich keine studierte Germanistin bin.
        Bevor ich Ihnen in einigen Punkten widerspreche, gebe ich Ihnen recht, wenn Sie schreiben: „Seit es das Internet gibt, sind alle Hemmungen weggefallen. Man schreibt da nicht einfach Umgangssprache. Ich kenne niemanden, der so spricht, wie man da schreibt. Es ist zum Großen Teil einfach nichts als Gegrunze.“ Auch mir ist aufgefallen, dass in der elektronischen Kommunikation die Grundregeln der deutschen Sprache oft schmerzlich vernachlässigt werden. Das hat sehr wahrscheinlich mit der Schnelligkeit der Kommunikation zu tun, die das Medium ermöglicht und die zu einer „Verletzung der Sorgfaltspflicht mit der deutschen Sprache“ führen kann.
        Nun zu Ihrer Kritik: Sie sagen, dass der „Duden […] nicht nur deskriptiv [ist], denn was er für allzu falsch hält, nimmt er nicht auf. Er nimmt aber auch Dinge auf, die er nicht aufnehmen sollte.“ An dieser Stelle argumentieren Sie eindeutig normativ. Das ist nicht schlimm, doch finde ich es zumindest sehr problematisch, eine Unterscheidung zwischen „guter“ und „schlechter“ Sprache zu treffen: „Der Zustand der deutschen Sprache, das möchte ich in Übereinstimmung mit den Bildungsbürgern, die Sie nicht mögen, behaupten, war zu Beginn des 18. Jahrhunderts schlechter als gegen Ende. Dem Sprachwandel im Verlauf des 18. Jahrhunderts stehen weder ich noch die von Ihnen angeführten ‚Akademikerkreise‘ feindselig gegenüber. In der Kaiserzeit war der Zustand der Zustand erbärmlich, und die Sprache eines Provinz- oder Boulevardjournalisten ist schlechter als beispielsweise die eines auch nur durchschnittlichen Zeit-Journalisten. Am derzeitigen Sprachwandel stört mich nicht, daß sich die Sprache wandelt, sondern wie sie sich wandelt und warum.“ Welche Kriterien benutzen Sie denn, um zwischen „guter“ und „schlechter“ Sprache zu unterscheiden zu können?
        Ich vermute, die Antwort zu dieser Frage haben Sie bereits selbst gegeben: „Am derzeitigen Sprachwandel stört mich nicht, daß sich die Sprache wandelt, sondern wie sie sich wandelt und warum. Natürlich, das kann ich nicht leugnen, gefällt mir manches nur deshalb besser, weil ich es gewohnt bin.“ Ich glaube, dass wir vieles „verurteilen“ oder als „schlecht“ kategorisieren, weil es neu ist und gegen unsere Gewohnheiten verstößt. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier!
        Falls Sie andere Kriterien verwenden als ihr persönliches Empfinden, lasse ich mich aber gerne von Ihnen umstimmen.

        Beste Grüße,
        M. Wienold

        • Ludwig Trepl sagt:

          Liebe Marlene Wienold
          Nur zu einem der von Ihnen genannten Punkte: „…doch finde ich es zumindest sehr problematisch, eine Unterscheidung zwischen „guter“ und „schlechter“ Sprache zu treffen“. Die haben Sie aber eben selbst getroffen. Sie ist unvermeidlich. Sie haben sicher auch schon gesagt: Da habe ich mich nicht gut ausgedrückt, lassen Sie es mich noch einmal versuchen. Immer, wenn man sich bemüht, etwas angemessen, schön, richtig zu sagen, macht man diese Unterscheidung. Die Frage ist nur: wie unterscheidet man richtig zwischen guter und schlechter. Kristin hat schon recht, wenn sie diejenigen kritisiert, die einfach die derzeitige für die gute halten, und dem stimmen Sie ja auch zu, wenn Sie kritisieren, daß das als schlecht gilt, „was neu ist und gegen unsere Gewohnheiten verstößt“. Jedem unterläuft das, man sollte es sich bewußt machen und bekämpfen. Aber es gibt auch andere, objektiv(er)e Kriterien, ich habe in meiner Replik auf Kristin welche angedeutet, siehe dort. Weitere wären z. B.: schlecht ist das Verschwinden von Wörtern mit präziser Bedeutung zugunsten von Wörtern, die alles und nichts bedeuten. Und es gibt natürlich ästhetische Kriterien. Das typische Amtsdeutsch ist auch deshalb zu kritisieren, weil es sich wegen der unzähligen Substantivierungen einfach grauslig anhört.
          Viele Grüße
          Ludwig Trepl

  4. janwo sagt:

    Warum, warum nur wollen eigentlich immer wieder Leute anderen Leuten vorschreiben, wie sie ihre Muttersprache zu gebrauchen haben? Das erinnert mich vom Absurditätsgrad an die im Krieg liegenden Liliputanerreiche aus „Gullivers Reisen“, wo aufs Erbittertste darum gestritten wurde, welches die einzig richtige Art sei, ein Frühstücksei zu öffnen.

    Herrgotnochmal! Sprache ist ein Gebrauchsgegenstand, ein Werkzeug, und das mag jeder bitte einsetzen dürfen, wie es ihm beliebt! Der eine unbeholfen, der andere künstlerisch, der eine salopp, der andere akkurat. Diese Variationsbreite ist eine der gar nicht zu unterschätzenden Stärken menschlicher Sprache. Und: „kaputt“ gegangen ist das Deutsche trotz eines schon über Jahrhunderte währenden Lamentos des angeblichen Niedergangs immer noch nicht.

    • Ludwig Trepl sagt:

      „Warum, warum nur wollen eigentlich immer wieder Leute anderen Leuten vorschreiben, wie sie ihre Muttersprache zu gebrauchen haben?“ Dann sollten Sie aber konsequent sein und die Abschaffung der Deutschlehrer fordern. Doch das würde auch nicht viel helfen. Nach wie vor würde der Richter zum Angeklagten sagen: „Gemeint mögen Sie das ja haben, aber was Sie geschrieben haben, bedeutet leider etwas anderes und zwar etwas, was den Tatbestand des Betrugs erfüllt.“ Dann bleibt dem Angeklagten nichts übrig als zu antworten: „Ich bin leider nicht in der Lage, meine Muttersprache richtig zu verwenden.“ Das müßte Sie eigentlich bereits im Rahmen Ihrer Auffassung, Sprache sei „ein Gebrauchsgegenstand, ein Werkzeug“, die ich ganz und gar nicht teile, überzeugen.
      Übrigens ist das mit den „über Jahrhunderte währenden Lamentos des angeblichen Niedergangs“ nicht ganz richtig. Bis vor etwa 200 Jahren überwog bei weitem die Auffassung, daß es mit der deutschen Sprache stetig bergauf gehe.

      • janwo sagt:

        > Dann sollten Sie aber konsequent sein und die Abschaffung der Deutschlehrer fordern.

        Das ist so ein unsachlicher Schmarrn, dass ich gar nicht weiß, ob ich darüber lachen oder weinen soll.

        • Ludwig Trepl sagt:

          Wenn Sie der Meinung sind, daß jeder die Sprache „einsetzen“ dürfen soll, „wie es ihm beliebt“, dann ist die unausweichliche Konsequenz, daß es keine Leute braucht, die anderen beibringen, wie man sie richtig einsetzt, also Lehrer. Das ist eine völlig „sachliche “ Feststellung. Es ist auch gar nicht so abwegig: Man macht es dann halt so wie es früher war: Die Kinder lernten sprechen dadurch, daß sie aufnahmen, was sie ist ihrem Dorf so hörten, es gab keine Institution, die darüber wachte. Kann ja auch ganz gut sein, nur glaube ich nicht (das war mein Richter-Argument), daß damit das Problem mit der Richtigkeit aus der Welt wäre. Haben Sie dagegen ein Argument (nicht nur einen flotten Spruch)?

          • JJ sagt:

            Die Kinder lernten sprechen dadurch, daß sie aufnahmen, was sie ist ihrem Dorf so hörten, es gab keine Institution, die darüber wachte.

            Wie hast du* denn sprechen gelernt? Mit 6, im Deutschunterricht?

            ———
            * Das folgt den Konventionen der Internetkommunikation.

      • Patrick Schulz sagt:

        Deutschunterricht ist an sich nichts schlechtes, solange er sich auf Literatur (im weitesten Sinne) und die Aspekte von Sprache beschränkt, die nicht natürlchen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten unterliegen (Rechtschreibung, z.B.). Zwar sollte man auch Grammatik lehren, allerdings nicht wie bisher präskriptiv, sondern ausschließlich deskriptiv („Bei ,Wegen dem…‘ regiert wegen den Kasus, den wir ,Dativ‘ nennen und das wird ebenso verwendet wie ,wegen des…‘, wo ,wegen‘ den Kasus, den wir als ,Genitiv‘ bezeichnen, regiert.“ statt „,Wegen dem‘ ist schlecht, da ,wegen‘ Genitiv zu regieren hat“).

        Sie werden lachen, aber tatsächlich sind derartige Forderungen in Linguistikkreisen recht weit verbreitet.

        Auch ihr letzter Punkt gehört widersprochen: Bereits 1617 wurde die „Fruchtbringende Gesellschaft“ gegründet, die sich dem Kampf gegen den Nidergang der deustchen Sprache (vor dem Französischen) verschrieben hat und immerhin heute noch vorhandene Wörter wie Abstand (für Distanz) oder Augenblick (für Moment) hervorgebracht hat. Hätten die Leute dort tatsächlich nur eine Minderheit repräsentiert, hätten sich weit weniger derer Vorschläge durchgesetzt und bis heute gehalten.

        Auf der anderen Seite gebe ich Ihnen Recht, es gibt tatsächlich Bereiche, in denen eine Kodifizierung von Sprache ihre Berechtigung hat. Allerdings wird dann diese Normierung nicht der Sprache wegen vorgenommen, sondern beispielsweise um Rechtsklarheit zu schaffen. Wären die Sprecher des Deutschen nur eine Minderheit in einer Gesellschaft mit einer andern Amts-/Gerichtssprache, würde sich der Bedarf an einer Kodifizierung verlieren.

        • Ludwig Trepl sagt:

          Lieber Patrick Schulz,
          Sie schreiben: „statt „,Wegen dem’ ist schlecht, da ,wegen’ Genitiv zu regieren hat“ sollte man ausschließlich deskriptiv Grammatik lehren.
          Ja, kann man machen; aber ändert das viel? Sie lehren das System der Sprache rein deskriptiv, aber sie ist nun mal ein präskriptives System. Es ist so, als würde man nicht lehren: Du sollst nicht betrügen usw., sondern ganz deskriptiv die Rechtslage beschreiben: Man unterliegt den Gesetzen dann aber immer noch. Der Unterschied ist vielleicht, daß man nun eher denkt: gut, so ist das Gesetz, ich hab die Wahl es zu befolgen oder es zu brechen.
          Ihr Hinweis auf die „Fruchtbringende Gesellschaft“ widerspricht nicht dem, was ich sagte. Es war doch so: Zu Anfang des 17. Jahrhunderts begann sich die französische Sprache in den höheren Ständen auszubreiten. Das mochten manche nicht, die wurden mehr und immer mehr, das Französische wurde zurückgedrängt und im 18. Jahrhundert trat ein Zustand ein, der von der Mehrheit (der gebildeten Stände wenigstens) als ein Aufblühen des Deutschen gesehen wurde.
          Ihren letzten Satz (Gerichtssprache) habe ich nicht verstanden.

          • Patrick Schulz sagt:

            Nur zur Klärung: Präskriptiv heist: „Etwas muss so sein (damit es richtig ist)“, während deskriptiv bedeutet: „Etwas ist so (egal, ob ich es als richtig empfinde oder nicht)“. Sprache ist kein präskriptives System: Es gibt niemanden, der uns verbindlich vorschreibt, dass „wegen“ mit Genitiv zu verwenden ist oder dass „Die Katze aus dem Sack lassen“ nicht wörtlich zu verstehen ist.

            Was andres ist Rechtschreibung, die ist tatsächlich präskriptiv festgeschrieben, also amtlich. Allerdings hat die auch nichts mit (dem System) Sprache zu tun. Oder anders: es gibt keine amtlich festgeschriebene Grammatik des Deutschen. Und das ist auch gut so, weil sonst die Sprache tatsächlich sterben würde.

  5. Pierpaolo Frasa sagt:

    Sehr geehrter Herr Trepl,

    Sie machen hier ein riesiges Faß auf und ich weiß nicht, ob Ihnen das bewußt ist.
    Mechanismen des Sprachwandels sind hochkomplex und eigentlich von keinem Wissenschaftler meines Wissens in ihrer Gänze verstanden. Natürlich dürfen Sie Ihre subjektive Meinung zu Sprachwandelphänomenen haben, dabei gilt es aber zu unterscheiden zwischen: i) rein subjektiven Ansichten der Form „ich finde die Schreibweise ‚Majonäse‘ häßlich“ oder „die Adelungsche ß-Schreibung ist schöner“ (beides würde ich so unterschreiben), die man nun einmal so stehenlassen kann und muß und ii) zwischen objektivierbaren Fakten und in Wahrscheinlichkeiten zu fassende Voraussagen zum Zustand und der Funktionalität von Sprache, für die es unerläßlich ist, die Wissenschaft zu Rate zu ziehen. Sie dürfen selbstverständlich auch in diesem Fall Ihre Meinung vertreten, sollten sich dann allerdings von Experten auf dem Gebiet auch belehren lassen können (auch das hat mit gutem Stil zu tun, genau so wie manche sprachliche Wendungen, für die sie sich starkmachen).

    Ich bin erst einmal froh drum, daß Sie (zumindest aus Ihrer persönlichen Sicht, die andere wohl nicht uneingeschränkt Teilen) etwas Licht in die teilweise etwas diffuse Argumentation von „Sprachwandelkritikern“ (ich werde diesen Begriff jetzt mangels eines besseren verwenden) bringen.
    Sie haben in der Tat zum einen Recht, daß viele Sprachwissenschaftler einen Sein-Sollen-Fehlschluß begehen – und daß aus der Tatsache, daß Sprache sich wandelt, sich erst einmal gar nichts ergibt: weder daß dieser gut, noch schlecht ist und auch nicht, daß es egal ist.
    Auf der anderen Seite bedeutet das aber, daß für eine „Evaluation“ des Sprachwandels irgendeine Meßlatte herbeigezogen werden müßte. Hier verlassen Sie sich gänzlich auf Ihre subjektiven Eindrücke, die Ihnen wie gesagt unbenommen sind, aber nichts über eine objektive Qualität der Sprache aussagen. Wollten Sie diese beurteilen, müßten Sie erst einmal versuchen, sprachliche Konstruktionen mit bestimmten (unerwünschten) sozialen oder anderen Faktoren zu korrelieren, was etwas schwierig sein dürfte. Tatsächlich ist es normalerweise eher so, daß eine Sprache genau das ausdrückt, was ihre Gemeinschaft auch ausdrücken will. Die kommunikative Funktion von Sprache kann nicht verlorengehen, solange die Gemeinschaft noch ein Interesse an Kommunikation hat (das unterstelle ich unserer Gesellschaft einfach einmal). Verschwinden einzelne Unterscheidungen aus dem System, zeigt das nicht, daß diese nicht mehr ausgedrückt werden können, sondern nur, daß diese systemextern – also durch Umschreibungen, etc. – ausgedrückt werden – oder daß neu geschaffene Mehrdeutigkeiten so oder so normalerweise durch den Kontext desambiguiert werden. An der Breite der kommunikativen Handlungen ändert das an sich nichts, höchstens daran, daß manches durch längere Ausdrücke geäußert werden muß. Hier zeigt sich aber, daß oft gebrauchte und in der Gesellschaft wichtige Begriffe und Konzepte ohnehin verkürzt werden. Die Sprachökonomie (als natürliche Kraft) führt also dazu, daß die Sprache letzten Endes mehr oder weniger auf die Gesellschaft zugeschnitten ist. Kritisieren Sie das Fehlen gewisser Unterscheidungen, ist das eigentlich eher ein gesellschaftliches als ein sprachliches Problem, was mit Sprachpolitik eigentlich kaum behoben werden kann. (Sofern Sprachpolitik sowieso überhaupt irgendwas bewirken kann, außer dicke Bücher zu füllen und irgendwelche armen Beamten zu drangsalieren. Ein weiteres objektivierbares Faktum, das Sprachwandelkritiker meist entweder nicht kennen oder ignorieren, ist daß (Alltags-)Sprache sich nicht verordnen läßt.)
    Der Vergleich mit Mathematik ist aus mindestens zwei Gründen unpassend: Zum einen ist Mathematik ein von Menschen bewußt aufgebautes System, um sich auf exakte Art und Weise über komplexe Sachverhalte austauschen und diese analysieren zu können, während Sprache in erster Linie ein Mittel der sozialen Interaktion ist und auch stets individuell wandelbar sein MUSS; zum anderen ist selbst Mathematik nicht so „exakt“ wie sie es darstellen: Es gibt überhaupt keinen Grund, wieso unsere Mathematik, so wie sie jetzt ist, „richtig“ sein sollte. Sie beschreibt viele Phänomene sehr gut, aber andere Systeme hätten womöglich dasselbe auf Grundlage ganz anderer Axiome erklären können. Nicht umsonst gibt es ja auch neben der euklidischen die hyperbolische Geometrie usw. Sowohl Mathematik als auch Sprache sind menschlich geschaffene Konstrukte und sich in dem Sinne darin ähnlich, daß es kein „richtiges“ oder „falsches“ System gibt, aber darin unterschiedlich, daß sie ganz anderen Zwecken dienen und demzufolge andere Anforderungen an sie gestellt werden müssen.

    Ein weiterer Punkt, der Linguisten an den meisten Sprachwandelkritikern ärgert, ist die mangelnde Differenzierung von Sprachwandelphänomenen bzw. die Beschränkung auf lexikalischen Wandel, wie auch die Unkenntnis der Relationen.
    Lexikalischer Wandel ist aus linguistischer Sicht vergleichsweise uninteressant. Die Mechanismen von Entlehung usw. können studiert werden, aber letzten Endes hat das Lexikon eine unglaublich zufällige Komponente, die sich nicht wirklich mit Verallgemeinerungen beschreiben läßt. Wörter kommen und gehen in jeder Sprache und viele Wörter, die wir heute überhaupt nicht mehr kennen, waren einmal genau so Modewörter wie heute „public viewing“ und haben es letzten Endes dann doch nicht geschafft, dauerhaft ins Lexikon aufgenommen zu werden. Andere sind geblieben. So wird das auch mit heutigen Fremdwörtern der Fall sein, und so war das in der Sprachgeschichte schon immer. Unsinnige Kreationen, die gerade „in“ sind, werden ihren Einzug kurzzeitig finden und dann gehen, wenn man für sie keine wirkliche Verwendung findet. Gerade im Fall von Wörtern ist Kritik besonders unsinnig, weil es keine inhärent „besseren“ oder „schlechteren“ Wörter für Dinge gibt und man in der deutschen Sprache auch einfach alle Wörter durch andere Wörter ersetzen könnte – die deutsche Sprache würde gleich gut funktionieren.
    Den einzigen Punkt, den Sie geltend machen können, ist daß lexikalischer Wandel für diejenigen negative Auswirkungen hat, die das „alte System“ kennen. Da sind Sie nicht die ersten, die das feststellen. Schon seit man Sprachwandel kennt, wurde dieser stets negativ beurteilt, weil er der allgemeinen Verständigung abträglich ist – das ist eine objektive Tatsache (die wüsteren Beschimpfungen mußte sich allerdings eher der Lautwandel als der lexikalische Wandel anhören). Allerdings ist das gewiss kein neues und schon gar kein aufhaltbares Phänomen. Und die Implikationen, die Sie ziehen, sind auch viel zu weit gegriffen. Wie gesagt ist der Wandel, den Sie beobachten, lexikalisch. Das heißt, daß nur Wörter ausgetauscht werden – an der Struktur der Sprache hingegen ändert sich nur sehr, sehr, sehr langsam etwas. Wenn Sie mich fragen, was heute in Europa ein DRINGENDES Problem von „Sprachwandel“ ist, dann würde ich Ihnen sagen, daß Sie sich eher um das Dialektsterben Sorgen machen sollten. Die deutsche Sprache wird nämlich eher immer stärker standardisiert und auf einen Nenner gebracht, was früher mal überhaupt nicht der Fall war.

    Und der letzte Punkt ist einer, wo ich Ihnen und anderen Sprachwandelkritikern zum Teil Recht gebe und zum Teil nicht: Ich bin mit Ihnen einverstanden, daß die sprachliche Kompetenz vieler Leute heutzutage zu Wünschen übrig läßt.
    Dabei handelt es sich allerdings strenggenommen wieder nicht um ein linguistisches, sondern um ein gesellschaftliches Problem: Es ist nicht das Problem, daß die Sprache allgemein „schlechter“ würde (was ja – wie gesagt – eine objektiv kaum haltbare These ist), das Problem besteht darin, daß in unserer Sprache viele verschiedene Register bestehen, die sehr unterschiedlichen Gesetzen gehorchen, und die man als kompetenter Sprecher beherrschen sollte, um sich in der Gesellschaft gut bewegen zu können. Nun ist es aber so, daß die Beherrschung bestimmter Register nicht bei allen gleich ausgeprägt ist, was zu Problemen und Verstimmungen in der Kommunikation führt – ähnlich wie wenn sich ein Schwabe mit einem Plattdeutschsprecher unterhalten würde.
    Ebenso besteht ein Problem im Leseverständnis heutiger (gerade auch junger) Leute: das hat wiederum aber nichts damit zu tun, wie diese Leute reden, sondern daß sie a) nicht alle Register und b) nicht alle (zumindest die jüngeren) historischen Stufen (zB das Deutsch eines Goethe) kennen; und c) zu wenig darüber lernen, wie Texte aufgebaut sind, wie man konzentriert liest, wie Argumentationen funktionieren, etc. etc. – das sind eher literarisch-philosophische Fähigkeiten und keine linguistischen.
    Registerbewußtsein und Leseverständnis zu fördern hat nichts damit zu tun, Sprachwandel aufhalten zu wollen. In der Tat wurde schon untersucht (meines Wissens von David Crystal), daß das Benutzen von SMS-Jargon u.ä. keine Aussagen über die Beherrschung des standardsprachlichen Ausdrucks erlaubt – sofern sie beides gelernt haben, sind Jugendliche durchaus in der Lage, hier zu differenzieren. Dasselbe kann ich im Übrigen auch aus eigener Erfahrung berichten.

    Das führt generell zu einem Hauptkritikpunkt aus linguistischer Sicht an den meisten Sprachwandelkritiker-Argumenten: Die Nicht-Unterscheidung von stabiler Variation (oder gar einfach spontaner Kreativität) und tatsächlichem Wandel.
    Daß viele Politiker, Werbeleute, usw. Begriffe verwenden, die Sie (und ich oft auch) als unglücklich empfinden, hat mit Sprachwandel eigentlich nichts zu tun, da es sich um einzelne sprachliche Handlungen handelt, die das Gesamtsystem der Sprache in keiner Weise beeinflussen. Erst wenn sich ein Lexem wirklich durchsetzt und auch über Jahre hinweg Verwendung findet, können Sie wirklich von Wandel sprechen. Die meisten Dinge, die Sie kritisieren, werden vermutlich irgendwann kein Thema mehr sein.

    Jetzt ist diese Replik doch furchtbar unstrukturiert geworden, aber damit werde ich wohl leben müssen.

    Mit freundlichen Grüßen
    P. Frasa

  6. Ludwig Trepl sagt:

    Lieber Herr Frasa,

    wenn ich auf alles antworten sollte, was Sie ansprechen, bräuchte ich Wochen; ich bin nicht vom Fach und mir fließen Sätze zu diesem Thema nicht so leicht aus der Feder. Darum nur ein paar unzusammenhängende und ungeordnete Bemerkungen.

    „Sie machen hier ein riesiges Faß auf und ich weiß nicht, ob Ihnen das bewußt ist.
“ Doch, das ist mir schon bewußt. Aber es gibt kaum einen Satz im allgemeinen intellektuellen Diskurs (ich hoffe, man versteht, was ich meine, mir fällt jetzt keine bessere Formulierung ein), der nicht aus der Sicht einer für das jeweilige Detail zuständigen wissenschaftlichen Disziplin ein riesiges Fach aufmacht. Dennoch sind diese Sätze nicht überflüssig, und es kann für die Fachgelehrten sehr nützlich sein, sich an diesem Diskurs zu beteiligen. Ich könnte Ihnen Fälle nennen, in denen ganze Denkgebäude, die im Panzer des Paradigmas für die Ewigkeit gefügt erscheinen, bei der leisesten Berührung mit diesem allgemeinen Diskurs zusammenfallen, weshalb diese Berührung auch gemieden wird. Das nur dazu, warum ich mich, als Laie, hier überhaupt äußere, obwohl ich, als Wissenschaftler, wenn auch auf ganz anderem Gebiet, gewohnt bin, solch lockeres Daherreden ohne Kenntnis der einschlägigen Diskussionen den Studenten nicht durchgehen zu lassen. – Sie schreiben, ich „darf“ meine Meinung äußern. Natürlich, juristisch darf ich das, aber darum geht es hier nicht. Ich „darf“ meine Meinung nur haben, solange man sie mir nicht widerlegt. Darauf warte ich, die Antworten sind die Prüfinstanz in diesem allgemeinen intellektuellen Diskurs.

    Sie schreiben: „…dabei gilt es aber zu unterscheiden zwischen: i) rein subjektiven Ansichten der Form „ich finde die Schreibweise ‘Majonäse’ häßlich …“. Da muß man, meine ich, weiter unterscheiden: zwischen dem Privatgeschmack, wo jeder den seinen haben mag (das gehört sicher die Majonäse hin, die Schreibweise des Wortes wie die damit bezeichnete Sache), und dem Geschmack, der im Schönheitsurteil im Kantschen Sinn am Werk ist, dem Urteil, das „Anspruch auf die Beistimmung von jedermann macht“ (oder so ähnlich). Kann es sein, daß dieser Unterschied unter Linguisten vernachlässigt wird? Daß damit auch vernachlässigt wird, daß ein beträchtlicher Teil von Sprachkritik, und zwar der, wo man mit Ästhetik argumentiert, und zwar mit objektivem Anspruch, gar nicht in das Gebiet des wissenschaftlich Demonstrierbaren fällt, sondern von der Art der Kunstkritik ist? Wo es a) zwar um das einzelne, je eigene Geschmacksurteil geht und dabei b) doch nicht um die Frage geht, was gefällt, sondern was objektiv gefallen sollte? – Ich habe den Eindruck, Sie haben, wenn Sie von Sprachwandelkritikern reden, Leute wie B. Schick im Auge. Lesen Sie „Sprachwandelkritiker“ von Rang, Karl Kraus oder Henscheid z. B., da sieht es in dieser eben genannten Hinsicht gleich ganz anders aus.

    „Auf der anderen Seite bedeutet das aber, daß für eine „Evaluation“ des Sprachwandels irgendeine Meßlatte herbeigezogen werden müßte. Hier verlassen Sie sich gänzlich auf Ihre subjektiven Eindrücke“. Nein, das mache ich ausdrücklich nicht, mit denen fange ich nur an, bzw. wo ich es mache, dann im Bereich des Ästhetischen und dann mit dem eben angesprochenen objektiven Anspruch („subjektive Allgemeinheit“ des Urteils). Hier kann kritisiert werden wie in der Kunstkritik üblich, und die Kritik an meiner Kritik irritiert mich dann vielleicht, und ändert vielleicht ändert sich dann auch mein Urteil.
    Aber davon abgesehen verlasse ich mich nicht auf subjektive Eindrücke, sondern argumentiere, versuche also zu objektivieren. Daß das überhaupt möglich ist, wird gewöhnlich mit konventionalistischen Argumenten bestritten. Ich weiß nicht, ob Sie das auch tun. Ich meine dazu: Die Sprache ist natürlich im Gebrauch entstanden und ändert sich durch Änderung irgendwelcher Konventionen, aber zu jedem Zeitpunkt ist sie ein System mit meist ziemlich bis sehr strenger „Logik“. Man kann einen bestimmten Gedanken so ausdrücken und nicht so, bzw. wenn, nicht, dann ist es eben ein anderer Gedanke als der, der es sein soll. „Die Studierenden in diesem Raum“ sind die, die studieren, nicht die Studenten im Raum, die schlafen. Es sind aber von denen, die so reden, alle Studenten gemeint. Das ist ein Fehler.
    Aber gerade jetzt ist eben dieser Fehler dabei, keiner zu werden; es ist sicher nicht damit zu rechnen, daß die „Studierenden“, so, wie das Wort zur Zeit im Jargon der Politkorrektler gebraucht wird, wieder verschwinden werden. Nun sagen Sie, wenn ich es richtig verstehe, daß der Kontext schon dafür sorgt, daß die Sprache weiter funktionsfähig bleibt, man „Studierende“ so versteht, wie es die Sprecher haben wollen. Ja, jetzt bereits von denen, die es mit der Wortbedeutung nicht genau nehmen und auch denen, die gleich riechen, daß hier die political correctness am Wirken ist. Und irgendwann von allen, nämlich wenn die Umstellung vollzogen ist, dann kann man, die neue Wendung gebrauchen, ohne daß da irgendwas knirscht oder schlicht falsch, sinnverzerrend wird. Aber erst mal ist sie falsch. Oder nehmen Sie das sog. Deppenleerzeichen. Es gibt fast immer dem Satz einen völlig anderen Sinn als den, den er haben soll, oder es zerstört jeden Sinn. Um hier wieder Verständlichkeit und Eindeutigkeit herzustellen, ist, darüber schreiben Sie ja auch, ein ganzer Rattenschwanz von Veränderungen an anderer Stelle nötig. Dieses Leerzeichen wird sich, wie ich meine Deutschen kenne, wohl durchsetzen, und dann wird entweder die Sprache gewaltig an Diffusität gewonnen haben (also tatsächlich objektiv schlechter geworden sein) oder jener Rattenschwanz an notwendigen Umstellungen wird Realität werden, der Sinn wird „systemextern – also durch Umschreibungen, etc. – ausgedrückt werden“ oder „neu geschaffene Mehrdeutigkeiten“ werden „durch den Kontext desambiguiert“ und alles ist wieder in Ordnung. – Sie schreiben: „Die meisten Dinge, die Sie kritisieren, werden vermutlich irgendwann kein Thema mehr sein.
“ Das glaub ich gern, aber weniger, weil sie wieder verschwinden werden – das allerdings auch; das interessiert mich aber nicht: jetzt haben wir sie. Sondern mehr deswegen: Sie sind noch da, aber nicht mehr zu kritisieren, sie sind keine Fehler mehr.

    Ich springe. Wenn ich meinen Verdacht in einem Satz zusammenfassen darf: Sie unterscheiden mir zu wenig zwischen dem, was die Sprache in jedem Moment fordert (hier gilt im allgemeinen richtig-falsch, gut-schlecht, schlau-dämlich; und es ist ziemlich egal, wie die Leute reden: vielleicht reden sie alle falsch, das entscheiden nicht die Leute) und dem, was diachron passiert, in dem Prozessen, die das System der Sprache erzeugen: Da wirken Konventionen, da gibt es eine Macht der Mehrheit, da wird der Begriff „Fehler“ problematisch. Ich durchschau’s noch nicht ganz, aber irgendwie scheint mir da eine Variante der Genesis-und-Geltung-Problematik ihr Unwesen zu treiben.

    Das ist das eine: Es geht mir nicht nur um subjektive Eindrücke, sondern um Fehler, und „Fehler“ ist etwas mehr als nur ein Abweichen von Konventionen.
    Der andere mir wichtige Punkt ist sozusagen ein moralischer. Sie schreiben: „Unsinnige Kreationen, die gerade „in“ sind, werden ihren Einzug kurzzeitig finden und dann gehen, wenn man für sie keine wirkliche Verwendung findet.“ Offenbar sind Sie der Meinung, daß das Gute positiv ausgelesen wird. Ich glaube, da täuschen Sie sich sehr; die darwinsche Selektion liest nicht das „Gute“ positiv aus, sondern das, was unter bestimmten Umweltbedingungen zu mehr Nachkommen führt. Die Mehrzahl der sich neu in den Vordergrund drängenden Wörter tut das, weil sie dem Sprecher hilft, sich aufzublähen, Minderwertigkeitskomplexe zu verdecken und ähnliches. Fast alle Anglizismen haben diesen Hintergrund; wer das leugnet, ist naiv oder macht sich was vor.
    Gewiß, diese Funktion haben viele der Neuwörter irgendwann nicht mehr (man wirkt nicht mehr weltmännischer dadurch, daß man seit langem übliche Wörter englischer Herkunft wie Sport oder Jeans benutzt), aber diese Funktion scheint doch – beim derzeitigen Seelen- und Geisteszustand der Deutschen wenigstens – weiterhin wichtig, und dann werden halt andere, funktionstüchtige Blähwörter an die Stelle verschlissener treten. Aber bei vielen ist die mit solchen niederen Beweggründen verbundene Funktion ziemlich dauerhaft; der Wortschatz des Jargons der Eigentlichkeit ist heute noch weithin in Gebrauch. Kurz: die „wirkliche Verwendung“, die die „unsinnigen Kreationen“ finden, kann auch in etwas Schlechtem bestehen. – Das ist es, was mir am derzeitigen Sprachwandel am meisten auf die Nerven geht: daß in ihm ein moralischer, so muß man’s wohl nennen, Verfall (keine Sorge, ich weiß, wohin man sich mit diesem Wort stellt und passe auf) zu Ausdruck kommt. Wo man auch hinsieht und hinhört, man sieht sich von Leuten umwinselt, die einem durch ihre Wortwahl zu verstehen geben wollen, daß sie gar nicht solche Würstchen sind wie sie scheinen.

    Nun werden Sie sagen: War das nicht immer so? War es in dieser Hinsicht denn zur Kaiserzeit mit ihrem Oberlehrer- und Oberfeldwebeljargon besser? Hörte man da nicht jedem Wort den moralischen Tiefstand der Epoche an? Ungefähr so war es vielleicht in der Tat zu jeder Zeit oder wenigstens in Wellen, die Sprachwandelkritik in der eben angesprochenen Hinsicht ist vielleicht eine ewige Aufgabe, aber sie ändert sich doch auch immer wieder. Man hat ja heute nicht das zu kritisieren, was Adorno am Jargon der Eigentlichkeit oder Karl Kraus an dem der zeitgenössischen Journalisten kritisiert hat, sondern anderes.
    Nun werden Sie vielleicht sagen: Mag sein, aber das ist kein Problem der Sprache, es ist eines der Gesellschaft. Ich habe den Unterschied, den Sie hier machen, nicht richtig verstanden. Sie schreiben: „Gerade im Fall von Wörtern ist Kritik besonders unsinnig, weil es keine inhärent „besseren“ oder „schlechteren“ Wörter für Dinge gibt“. Mag sein, kommt darauf an, was Sie mit inhärent meinen. Mich interessiert nur daß die Zahl der Wörter rasant zunimmt, die deshalb benutzt werden, weil ihr Gebrauch einen „schlechten Sinn“ hat, z. B. Angeberei. Wenn Sie nun meinen, daß das ein gesellschaftliches Problem sei (vielleicht mit dem Neoliberalismus und der Verpflichtung von allem und jedem auf seine Karrieretauglichkeit zu tun hat), dann würde ich sagen: Aber dieses gesellschaftliche Problem bringt doch eine Flut von sprachlichen Neuerungen hervor und insofern ist es auch ein sprachliches. Sie würden dann wohl sagen: aber das ist ja nur die lexikalische Ebene, die ist für Linguisten nicht besonders interessant. Für mich aber schon. Die Linguisten (Sie sind der einzige, der mir je begegnet ist, und daß ich einen Text von einem Linguisten gelesen habe, ist Jahrzehnte her, ich muß mich also auf Sie verlassen) scheinen mit „Sprachwandel“ einfach etwas anderes zu meinen als die deutsche Normalsprache. Daß die Rundfunksprecher in den 50er Jahren aufgehört haben zu brüllen, dürfte für Sie mit Sprachwandel nichts zu tun haben; es ist ein sozialpsychologisches Phänomen und kein linguistisches, würden Sie wohl sagen. Aber für unsereinen ist es ein beträchtlicher (positiver) Wandel der Sprache: Sie wird leiser, weniger aggressiv.

    Ihre Auffassung vom Wesen der Mathematik teile ich nicht, ich denke nicht so konventionalistisch und funktionalistisch. Aber das ist hier egal. Ich benutzte den Vergleich mit der Mathematik auf einer viel simpleren, eher alltagspraktischen Ebene, die durch das, was Mathematik letztlich ist, gar nicht berührt wird: Man kann nicht beschließen, daß 2 x 2 = 5 ist, sondern man hat zu erkennen, daß 2 x 2 = 4 ist. Und so ist es mit der Sprache meist auch: Man kann nicht beschließen, daß Erhalt und Erhaltung Synonyme sind, sondern hat zu erkennen, daß sie verschiedenes bedeuten (obwohl sie zu Synonymen werden können; jetzt sind sie es noch nicht). Ich wollte damit auf den Aspekt der Sprache hinweisen, den sie zweifellos hat: daß sie, so sehr sie in gewissem Sinne auch Produkt und Werkzeug sein mag, nicht unserem Belieben unterliegt, sondern daß es in jedem Moment primär eine Frage der Erkenntnis ist, wie etwas ausgedrückt zu werden hat.

    Sie schreiben, daß wir uns „eher um das Dialektsterben Sorgen machen sollten.“ Darum sollten wir uns in der Tat Sorgen machen, es ist traurig, aber da ist wirklich nichts mehr zu machen. Es ist ja kaum mehr etwas übrig. Allerdings spricht vieles dafür, daß es der deutschen Sprache bald so gehen wird wie ihren Dialekten. Doch das ist hier nicht mein Thema, auch wenn ich sehr darunter zu leiden habe – als Wissenschaftler lebt man ja in einer Welt, in der das Deutsche schon so gut wie gestorben ist. Im Alltag wird aber noch deutsch gesprochen, doch wie, das ärgert mich, und ich schreibe auf, was mich ärgert, ohne irgendeinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, aber mit dem Anspruch, daß mein Ärger nicht einfach subjektives Unbehagen ist. Schon gar nicht habe ich den Anspruch, eine These vom Niedergang der deutschen Sprache oder ähnliches zu beweisen oder zu widerlegen, ich habe zu dieser Frage nur einige vage und recht unzusammenhängende Gedanken. Ob sie richtig sind, ist mir nicht so wichtig, ich bin ja Laie. Aber daß ich im Einzelfall recht habe, das bedeutet mir schon etwas. Man müßte mir darum im Einzelfall zeigen, daß ich nicht recht habe, d. h. daß hier gar kein Grund besteht, sich zu ärgern.
    Ich höre jetzt einfach mal auf, lasse viele Fragen offen für später.

    Viele Grüße

    Ludwig Trepl

  7. Pierpaolo Frasa sagt:

    Sehr geehrter Herr Trepl,

    vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort.
    Ich werde versuchen, im einzelnen auf einige Punkte einzugehen:

    i) der Diskurs zwischen Fachgelehrten und der öffentlichkeit ist zwar wichtig; ich denke jedoch nicht, daß es besonders häufig vorkommt, daß Laienmeinungen wissenschaftliche Tatsachen widerlegen. Allerdings gehen wir auch von anderen Zielen aus: Die Wissenschaft stellt Tatsachen fest, sie dient kaum dazu, moralische Urteile zu fällen – das bleibt Privatpersonen überlassen; Ihre bewertenden Ansichten kann ich also nicht entkräften, ich (bzw. ein kompetenterer Linguist als ich sicherlich noch mehr) kann Ihnen Fehler in der Beurteilung von Fakten und Tendenzen aufzeigen.
    ii) die Auffassung, es gäbe eine „objektive Ästhetik“ lehne ich ab; es mag Verallgemeinerungen geben, Dinge, die von den statistisch gesehen von vielen Dingen gemocht werden, aber das ist wohl auch biologischen und/oder sozialen Zufälligkeiten geschuldet und mit genügend Gegenbeispielen versehen; moralisch finde ich es bedenklich, seine Auffassung von Ästhetik anderen Leuten aufoktroyieren zu wollen.
    iii) Ihr Beispiel mit der Kunstkritik ist nur bezeichnend: In der Kunstwissenschaft (wobei ich hier Kunst stellvertretend nehme für alle Künste, also auch Musik, Literatur, Theater, Film, und so weiter) gibt es schon längst keinen Konsens mehr darüber, was gute Kunst ist (falls es den jemals gab – daß wir heute sowohl Brahms als auch Liszt als gute Kunst betrachten, ist historisch etwas schwierig zu rechtfertigen). Natürlich gibt es irgendwodurch einen halbwegs objektivierbaren Unterschied zwischen einem Grundschülergedicht und dem Erlkönig – die Diskussion ist aber komplexer als sie sie darstellen. Wichtiger für die Diskussion hier ist allerdings, daß sich Kunst nur schwer mit Sprache vergleichen läßt. Sprache kann als Mittel der Kunst eingesetzt werden – dann ließe sich über Ästhetik wieder diskutieren; normalerweise erschaffe ich beim Sprechen jedoch keine Kunstwerke. Das Ansetzen desselben Maßstabs erscheint mir dann also relativ fragwürdig.
    iv) Wie Sie selbst anmerken, verstehen Sie den Zusammenhang zwischen der synchronen und der diachronen Ebene schlecht: das ist auch einer der Punkte, an dem Ihre Argumentationslinie meines Erachtens scheitert. Im Gegensatz zu Systemen wie der Mathematik oder Standards wie DIN-Normen ist Sprache nicht eindeutig festgelegt. Niemand konsultiert vor dem Sprechen oder Schreiben ein dickes Handbuch, auch Sie oder ich nicht. Zudem ist ein sprachliches System zu jedem Zeitpunkt mit stabiler Variation versehen, d.h. es gibt immer regionale, sozioökonomische, altersmäßige, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verwendung der Sprache – die meisten dieser Unterschiede bleiben auch sehr lange bestehen. Ebenso ist die Sprache in kontinuierlichem Wandel. Manche dieser Wandelprozesse geschehen zwar eher sprunghaft (z.B. Lautwandel), aber das, wovon Sie hier ja ständig sprechen – lexikalischer wandel – funktioniert über Diffusion und ist also ein stetig voranschreitender Prozess. Würden Sie diesen aufhalten wollen, müßten Sie gleichermaßen die Diffusion von Ideen generell unterbinden wollen; ich hoffe, daß Sie das nicht im Sinne haben.
    v) In dem Sinne gilt, was ich schon sagte. Da es zu keinem Zeitpunkt ein statisches Regelwerk gibt, ist der Sprachwandel nicht in dem Sinne für die Sprache ein Problem sondern für einzelne Sprecher. Wie Sie bei der Lektüre der Merseburger Zaubersprüche feststellen können, mindert der Sprachwandel unser Verständnis für frühere Varianten unserer Sprache wie sie das auch für zukünftige tut. Daran kann aber nun einmal nichts geändert werden: so wie die Jahreszeiten sich abwechseln, so wandelt sich auch die Sprache. Ob man sich anpaßt oder nicht, bleibt dann jedem selbst überlassen.
    vi) Im Übrigen, würden Sie davon ausgehen, daß es zu einem Zeitpunkt X ein festes Regelsystem für eine Sprache gibt, so frage ich mich, wer dieses System definiert. Sie behaupten ja, daß dies „nicht die Mehrheit“ der Sprecher tue, sondern nur „die Minderheit, die die Sprache auch beherrscht“. Diese Aussage ist allerdings tautologisch. Da stabile Variation in der Sprache immer besteht, ist es sowieso verfehlt anzunehmen, es gäbe einen Konsens darüber was „richtige Sprache“ sei; den gibt es vielleicht gerade mal in sehr eng begrenzten Kontexten – daß jeder (gerade auch wissenschaftliche) Verlag seine eigenen sprachlichen (und typographischen) Regeln hat ist hierfür doch bezeichnend.
    vii) Zu Ihrem Beispiel mit den „Studierenden“: Aus subjektiver Sicht stimme ich Ihnen zu, daß der Ausdruck unschön und wenig logisch ist. Allerdings, wie Sie richtig erkennen, ist das nur für uns Sprecher, die wir den „alten“ Ausdruck kennen, ein Problem, die Sprache funktioniert mit diesem Ausdruck genauso gut wie mit dem anderen. Im Übrigen verkennen Sie hier allerdings auch die tatsächlichen Verhältnisse: Während der Ausdruck in öffentlichen Ansprachen, offiziellen Mitteilungen und im Amtsjargon Einzug gehalten hat, kenne ich persönlich niemanden, der umgangssprachlich so spricht. Mein Problem mit dem Ausdruck ist insofern genau auch der, daß man versucht, etwas zu verordnen (und arme Beamte zu quälen), was in der Sprache eigentlich gar nicht wirklich benutzt wird: Also eben Sprachpolitik, die, wie ich schon feststellte, zu nichts wirklich nutze ist.
    viii) Allgemein ist Ihr Anspruch, daß Sprache „logisch“ sein soll, etwas vermessen. Zum einen gibt es bereits heute in jeder Sprache tausende von Beispielen, ob jetzt in Lexemen oder in grammatischen Regeln (was z.B. ist an den zig Deklinationsklassen deutscher Nomen, die für Nicht-Muttersprachler teilweise fast nicht erlernbar sind „logisch“?), die solcher „Logik“ widersprechen. Zum anderen funktionieren kommunikative Situationen eben viel besser darüber, daß man Assoziationen, Analogien und Vereinfachungen benutzt und nicht nach einem strikten logischen Prinzip: denn keine logisch aufgebaute Ontologie kann alle Aspekte menschlicher Kommunikation (bzw. des Lebens im allgemeinen) überhaupt erfassen. Im Übrigen gibt es sogar in der Mathematik „unlogische“ Verwendungen. Theoretische Informatiker schreiben z.B. oft genug über die Komplexität eines Algorithmus „T(n)=O(log n)“, obwohl die O-Notation eine Menge definiert, also eigentlich das Element-Zeichen erforderlich wäre. Konvention hat in diesem Fall allerdings diese Regel weitgehend außer Kraft gesetzt. Ähnliche Beispiele gibt es zuhauf. (Bei Ableitungen u.ä. gibt es auch zig Notationen.)
    ix) Wo wir bei Mathematik sind: Wenn ich das richtig verstehe – würde ich eine algebraische Struktur definieren, in der die Verknüpfung „x“ so definiert wird, daß sie das Paar (2,2) auf das Element 5 abbildet, so wäre der Ausdruck „2×2=5“ sogar korrekt. Es ist also alles Frage der Konvention (wobei natürlich ein Mathematiker diese Konvention eher nicht einfach so überschreiben würde, da dies für Verwirrung sorgen würde). Wie gesagt ist Mathematik aber sowieso ein anderes Ding als Sprache, da sie a) andere Anforderungen zu erfüllen hat und b) zwar nicht zu 100% aber doch zu weiten Teilen statisch ist und sie sich nur punktuell ab und an verändert (und selbst das eher dadurch, daß auf Bestehendes aufgebaut wird und weniger, daß Bestehendes umdefiniert wird); Sprache ist das genaue Gegenteil.

    Ich muß aufhören, weil ich keine Zeit mehr habe, ich werde zu einem späteren Zeitpunkt mehr schreiben.

    • Ludwig Trepl sagt:

      Lieber Herr Frasa,

      hier einige Antworten, wie gehabt völlig durcheinander.

      (1) „ich denke jedoch nicht, daß es besonders häufig vorkommt, daß Laienmeinungen wissenschaftliche Tatsachen widerlegen.“
      Das kommt heutzutage wirklich kaum, wenn überhaupt vor, aber das meinte ich auch nicht. Ich sprach vom „allgemeinen intellektuellen (!) Diskurs“. Da macht keiner mit, der nicht auf irgendeinem Gebiet wissenschaftlich (im weitesten Sinn) ausgebildet ist. Da treffen Fachgelehrte der Geographie auf Fachgelehrte der Politologie und Soziologen auf Religionsphilosophen. Die Diskurstheoretiker haben ein Fachwort dafür, aber das fällt mir jetzt nicht ein. Und da wird in der Tat viel an Fachwissenschaftlichem widerlegt, allerdings weniger Tatsachenbehauptungen, sondern vor allem Theorien.

      (2) „Wissenschaft stellt Tatsachen fest, sie dient kaum dazu, moralische Urteile zu fällen – das bleibt Privatpersonen überlassen“. Kommt darauf an, was Sie unter Wissenschaft verstehen. Wenn Sie „science“ meinen, haben Sie recht. Wenn Sie den deutschen Sprachgebrauch nehmen, wo die „humanities“ auch „Wissenschaften“ heißen und die Philosophie die Königin der Wissenschaften – nun, vorsichtshalber sag’ ich lieber, war, dann haben Sie nicht recht. Die Wissenschaft der Ethik untersucht Behauptungen moralischer Art im Hinblick darauf, ob sie objektiv berechtigt sind. Damit fällt sie moralische Urteile.

      (3) „die Auffassung, es gäbe eine „objektive Ästhetik“ lehne ich ab; es mag Verallgemeinerungen geben, Dinge, die von den statistisch gesehen von vielen Dingen gemocht werden, aber das ist wohl auch biologischen und/oder sozialen Zufälligkeiten geschuldet und mit genügend Gegenbeispielen versehen“.
      Das bezieht sich auf eine ganz andere Ebene als die, um die es bei der Frage der „objektiven Ästhetik“ geht und auf die sich eine nunmehr 200 oder auch, wenn man die Anfänge in den Auseinandersetzungen zwischen empiristischen und rationalistischen Ästhetiktheorien einrechnet, 300 Jahre alte, Bibliotheken füllende Diskussion bezieht. Es hat aber wenig Sinn, hier darüber weiterzudiskutieren, wenn Ihnen die nicht bekannt ist (obwohl für den Zweck, nicht aneinander vorbeizureden, wohl schon die Lektüre des Originals, des eigentlichen Startpunkts, d. h. der Kritik der Urteilskraft, reichen würde).

      (4) „moralisch finde ich es bedenklich, seine Auffassung von Ästhetik anderen Leuten aufoktroyieren zu wollen“.
      Das ist ein Trick: „aufoktroyieren“ ist natürlich moralisch bedenklich. Doch darum geht es nicht. Wir behaupten ständig, daß etwas, etwa ein Kunstwerk, „schön“ sei und streiten mit anderen um die Berechtigung dieses Urteils. Wenn dies nicht – als Anspruch – möglich wäre, wäre Kunstkritik nicht möglich. Es könnte immer nur gesagt werden: Ich fand die Inszenierung gut, du fandest sie schlecht, Punkt. Mit der Frage, ob es unter Wissenschaftlern oder wem auch immer einen Konsens gibt, „was gute Kunst ist“, hat das nicht das Geringste zu tun. – Klar, die empiristisch-positivistischen Philosophen haben mit der „objektiven Ästhetik“ seit 300 Jahren ein Problem, aber „als Menschen“ müssen selbst sie sie doch anerkennen: Sie streiten, wenn sie aus dem Konzert kommen, sie sagen nicht: du hast halt deinen Geschmack, ich hab meinen. Zusammengefaßt: was Sie in Ihren Punkten (ii) und (iii) sagen, ist falsch oder geht am Thema vorbei, und hier kann ausnahmsweise ich mal zu Ihnen sagen: Da sind Sie nicht Fachmann genug, daran liegt’s.

      (5) „Wichtiger für die Diskussion hier ist allerdings, daß sich Kunst nur schwer mit Sprache vergleichen läßt.“
      Da haben Sie recht, ich hab da nur eine dumpfe Ahnung formuliert. Aber an ihr muß doch was dran sein. Man setzt ja Sprache nicht nur als Mittel der Kunst ein, wenn man Gedichte schreibt. Sondern bereits immer dann, wenn man auf den Stil achtet – und das tut man selbst in wissenschaftlichen Texten, in Stammtischreden und sonstwo – setzt man das, was man von sich gibt, vorher dem eigenen ästhetischen Urteil aus bzw. beachtet das mögliche ästhetische Urteil der anderen, d. h. man behandelt seine eigenen Erzeugnisse als eine Art Kunstwerk. Dann muß man aber auch in der dafür angemessenen Art über sie reden: Kunstkritik.

      (6) „Im Gegensatz zu Systemen wie der Mathematik oder Standards wie DIN-Normen ist Sprache nicht eindeutig festgelegt.“
      Gewiß, aber das tangiert meine Argumentationslinie, anders als Sie meinen, gar nicht. Die Zwänge, von denen ich rede, sind anderer Art, als Sie vermuten. Sie bestätigen das indirekt auch: „Zudem ist ein sprachliches System zu jedem Zeitpunkt mit stabiler Variation versehen, d.h. es gibt immer regionale, sozioökonomische, altersmäßige, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verwendung der Sprache“. Genau so ist es. Es gibt altersmäßige Unterschiede. Das ist aber nicht einfach ein Tatbestand, den man in deskriptiver Einstellung festzustellen hat, sondern eben das schafft Zwänge normativer Art: Ein 70jähriger „darf“ nicht so reden wie ein 17jähriger, er macht sich lächerlich, nicht nur vor anderen, auch vor sich selbst. – Sie kritisieren weiter unten, daß ich von der strengen Logik der Sprache gesprochen hätte. Ich habe aber Logik bewußt in Anführungszeichen gesetzt. Ich meine Zwänge wie den eben genannten, oder Zwänge der Art, daß halt unter 9 Wörtern mit ähnlicher Bedeutung, die man im Thesaurus findet, drei gehen, aber schlecht, und ein ganz bestimmtes das beste ist, so daß einem nichts anderes übrig bleibt, als eben dieses Wort zu wählen – wer ein anderes wählt, dem wird, im modischen Jargon, „mangelnde Sprachkompetenz“ bescheinigt. Überhaupt meine ich mit „Logik“ eher etwas von der komplexen Art, die Foucault in Diskursen ihren Zwang ausüben sieht (Systemlogik, sagen auch manche), als das, was man sonst mit „Logik“ meint.

      (7) “…lexikalischer wandel – funktioniert über Diffusion und ist also ein stetig voranschreitender Prozess. Würden Sie diesen aufhalten wollen, müßten Sie gleichermaßen die Diffusion von Ideen generell unterbinden wollen“.
      Ich habe den Eindruck, Sie glauben, ich würde den Wandel aufhalten wollen. Auch äußern Sie den Verdacht, ich wäre für „Sprachpolitik“. Wie kommen Sie darauf? Ich bestehe nur darauf, daß es richtig und falsch, gut und schlecht gibt (wenn es auch ab und zu in dieser Beziehung Neutrales geben mag), und daß es gar nicht anders geht, als für das Richtige und das Gute zu sein. Jeder macht das ständig mit sich und anderen. Und ich suche mir halt bestimmte besonders knalltütenreiche Gegenden der Gesellschaft aus (Politiker, Manager, ….) und mache mir meine Gedanken darüber, warum die so reden wie sie reden, und teile die anderen mit. Ein Amt wie das, das sich seinerzeit „Anschrift“ ausgedacht hat (und damit den Sprachwandel förderte), scheint mir nicht weniger lächerlich als ein Amt, das „Team“ für „Mannschaft“ einzuführen befielt (soll es geben, in der Schweiz) oder eines, das anordnet, „Team“ wieder aus dem Wortschatz zu streichen, weil es ein Fremdwort ist. Aber daß es Satiriker gibt, die über Leute herziehen, die „Team“ statt „Mannschaft“ schreiben aus Angst vor der feministischen Aufpasserin in ihrem eigenen Kopf, und die keineswegs deshalb über sie herziehen, weil Sie den Sprachwandel aufhalten wollen deshalb, weil Sprachwandel nur sich schlecht ist, sondern weil ihnen diese Leute auf die Nerven gehen: das finde ich in Ordnung. Nur wenn das für Sie auch Sprachpolitik ist, dann bin ich für Sprachpolitik.
      Das zu Sprachpolitik und zum Sprachwandel. Mich interessiert dieser nicht so sehr, mich interessiert viel mehr, was z. B. die studierten Betriebswirte und die Manger und deren Berater für eine seltsame Menschensorte sein müssen, da sie doch so überaus putzig reden. Sie vermuten, glaub ich, zu recht: mich interessieren die Sprecher, nicht die Sprache. Aber, und da scheinen Sie anderer Meinung zu sein: ein Problem der Sprache ist das doch; da die Manager heutzutage derart überhandnehmen, leidet auch die Sprache (Sie sagen: die erholt sich schon wieder, aber das ist mir völlig egal, ich muß sie jetzt ertragen).

      (8) „Während der Ausdruck (‚Studierende’) in öffentlichen Ansprachen, offiziellen Mitteilungen und im Amtsjargon Einzug gehalten hat, kenne ich persönlich niemanden, der umgangssprachlich so spricht.“
      Sie Glücklicher! Ich kenne viele, man kann schon von Massen reden. In meiner bisherigen Umgebung (eine Technische Universität) sagt fast keiner der Studenten mehr Student. Ich hätte wohl doch Linguist werden sollen.

      (9) „…so frage ich mich, wer dieses System definiert. Sie behaupten ja, daß dies „nicht die Mehrheit“ der Sprecher tue, sondern nur „die Minderheit, die die Sprache auch beherrscht“. Diese Aussage ist allerdings tautologisch.“
      Natürlich war mir beim Schreiben bewußt, daß sie tautologisch ist, aber ich hätte nicht gedacht, daß man nicht in der Lage ist, sie (eine übliche Wendung in solchen Zusammenhängen) richtig zu lesen. Soll ich das im Ernst erklären??
      Es geht nicht darum, das System Sprache zu definieren, sondern im Hinblick auf Aussagen (Sätze? Formulierungen? Wie nennt man das?) Urteile über ihre Richtigkeit oder auch Schönheit und … zu treffen. Da ist es einfach so wie sonst meist auch: Die Frage zu beantworten, wie lang ein bestimmtes Auto noch fahren wird, überläßt man besser den Automechanikern, die können das besser als die Mehrheit der Autobesitzer. Und wenn ich in einer Klasse bin und wissen will, wie man etwas richtig schreibt, dann frage ich besser den Lehrer und nicht die Schüler, obwohl die die Mehrheit sind. (Übrigens, so wie Sie mich zitieren, kann ich das nicht gesagt haben, außer in einem Anfall geistiger Umnachtung; niemand, der Karl Kraus gelesen hat, wird je vom „Beherrschen“ der Sprache sprechen.)

      (10) „ … so wäre der Ausdruck „2×2=5″ sogar korrekt. Es ist also alles Frage der Konvention …“
      Es ist für den Zweck, für den ich den Vergleich mit der Mathematik gebracht habe, vollkommen, aber auch so was von vollkommen egal, was die Mathematik nach Frege oder nach Hilbert oder nach sonst wem alles so veranstalten kann und über sich selbst denkt. Nur auf diese ganz alltagspraktische Sache kommt es an: Der Verkäufer kann nicht sagen: 2 Pfund Mehl kosten 2 Euro, also kosten 4 Pfund 5 Euro, denn für mich ist 2 x 2 = 5. Sondern er hat zu erkennen, daß 2 x 2 = 4 ist. Ich hätte auch sagen können: Eine Kuh ist eine Kuh und kein Pferd, wer sagt, sie sei ein Pferd, unterliegt einem Irrtum. Natürlich kann z. B. eine Fachgemeinde beschließen, für den Begriff, den man gemeinhin mit „Kuh“ bezeichnet, ab jetzt die Buchstabenfolge „Pferd“ einzuführen; da sind wir in dem Bereich, wo es um Konventionen geht und nicht um die Erkenntnis objektiver Sachverhalte. Und ich wollte damit eben sagen, daß der Anteil, der beim Sprechen „Erkenntnis objektiver Sachverhalte“ ist, viel größer ist als die Linguisten (wie ich mir sie vorstelle, wie gesagt: ich kenne keinen) sich das so denken. Ich vermute, ihre ständige Beschäftigung mit dem Sprachwandel läßt sie überall nur Konventionen sehen und verschafft ihnen eine professionsbedingte Blindheit im Hinblick auf die Frage, was richtiges Sprechen ist.

      So, jetzt mach ich erst mal Schluß, sonst wird es so lang, daß es keiner lesen mag.

      Viele Grüße

      Ludwig Trepl

  8. Kristin sagt:

    Lieber Herr Trepl,

    ich denke Ihre Überzeugung, dass es eine objektive Ästhetik gibt und dass diese auf Sprache anwendbar ist, ist der Grund dafür, dass wir nicht so recht eine Gesprächsbasis finden, sondern beide Seiten auf ihrer eigenen Ebene argumentieren.

    Ich will nicht bestreiten, dass es persönlichen Geschmack gibt – obwohl ich als Sprachwissenschaftlerin da sehr tolerant geworden bin, weil ich alle Phänomene zunächst einmal als tolle Untersuchungsobjekte sehe und mich daran freue, habe ich auch einen solchen. (Ich drehe z.B. fast durch, wenn Linguisten der Korpus statt das sagen, oder Worte, wo Wörter gemeint sind … dabei macht Sprachwandel halt auch vor Fachsprachen nicht halt.)

    Nun ist es aber meiner Meinung nach unabdinglich zu reflektieren, wie dieser Geschmack zustandekommt und wozu er dient.

    Ich habe bei Ihnen den Eindruck, dass Sie gewisse gesellschaftliche Entwicklungen ablehnen oder zumindest kritisch sehen (z.B. das Internet, zunehmende Globalisierung und Mehrsprachigkeit, politische Korrektheit) und (teilweise vermeintlich) damit einhergehende sprachliche Phänomene dann ebenfalls ablehnen.

    So schreiben Sie an Pierpaolo über Anglizismen:

    Offenbar sind Sie der Meinung, daß das Gute positiv ausgelesen wird. Ich glaube, da täuschen Sie sich sehr; die darwinsche Selektion liest nicht das „Gute“ positiv aus, sondern das, was unter bestimmten Umweltbedingungen zu mehr Nachkommen führt. Die Mehrzahl der sich neu in den Vordergrund drängenden Wörter tut das, weil sie dem Sprecher hilft, sich aufzublähen, Minderwertigkeitskomplexe zu verdecken und ähnliches. Fast alle Anglizismen haben diesen Hintergrund; wer das leugnet, ist naiv oder macht sich was vor.

    Zunächst einmal haben Sie eine unterschiedliche Vorstellung von „gut“ – für Pierpaolo ist es so etwas wie „funktional, das Sprachsystem sinnvoll ergänzend“, für Sie ist es eher „ästhetisch, aus den richtigen (sozialen) Gründen geschehend“.

    Aber zur Motivation zur Anglizismenverwendung: Da gibt es viele, viele Gründe. Für Ihre Behauptung, fast alle Anglizismen hätten ihren Ursprung in Angeberei, kenne ich keine einzige Quelle und ich vermute stark, dass auch Sie eine solche nicht anführen können, es sich also um eine „gefühlte Statistik“ handelt – also etwas, bei dessen Verwendung man sich gerade als Wissenschaftler, egal welcher Disziplin, meiner Meinung nach sehr zurückhalten sollte.
    Persönliche Erfahrung ist einfach kein guter Indikator für so etwas, besonders dann nicht, wenn es um Motivationen geht, die man anderen unterstellt, weil sie von außen nicht sichtbar sind.

    Aber selbst wenn man zeigen könnte, dass „Angeberei“ ein großer Faktor bei der Nutzung von Anglizismen ist, heißt das noch lange nicht, dass das Sprachsystem dadurch „geschädigt“ wird.
    Wäre es Ihrer Meinung nach z.B. besser für eine Sprache, wenn man neue Wörter mit der Motivation einführen würde, etwas für die klassische Bildung der Deutschen zu tun? Die entstehenden Wörter wären zunächst ebenso unverständlich, man müsste sein Vokabular ebenso erweitern und den willkürlichen Lautfolgen eine Bedeutung zuweisen.

    So, ich muss mich bremsen, später vielleicht mehr.
    Beste Grüße!

    • Ludwig Trepl sagt:

      Liebe Kristin,

      Danke für die Antwort. Ein paar Anmerkungen dazu.

      „Ich will nicht bestreiten, dass es persönlichen Geschmack gibt“.
      Das läßt sich auch nicht bestreiten und das bestreitet auch keiner. Bestritten wird (in empiristischen Philosophien), daß es guten und schlechten Geschmack gibt und daß wir es gar nicht vermeiden können, ästhetische Urteile mit objektivem Anspruch zu formulieren. Aber um das sinnvoll diskutieren zu können, fehlen, das habe ich gemerkt, auf Seiten meiner Linguisten-Konkurrenten einige Voraussetzungen, siehe meine Antwort auf Pierpaolo Frasa (mir fehlen natürlich auch eine Menge Voraussetzungen für diese Diskussion hier, aber bisher scheint’s zu gehen).

      „Ich habe bei Ihnen den Eindruck, dass Sie gewisse gesellschaftliche Entwicklungen ablehnen oder zumindest kritisch sehen (z.B. das Internet, zunehmende Globalisierung und Mehrsprachigkeit, politische Korrektheit) und (teilweise vermeintlich) damit einhergehende sprachliche Phänomene dann ebenfalls ablehnen.“
      Da haben Sie völlig recht, genau das ist es. Mich interessieren nicht linguistische Probleme, sondern gesellschaftliche, vielleicht ist sozialpsychologische das richtige Wort. Aber nun müssen Sie schon weiter fragen: warum lehne ich diese gesellschaftlichen Entwicklungen ab? Erst wenn Sie gezeigt haben, daß ich sie zu Unrecht ablehne, wird eine berechtigte Kritik daraus.
      Nebenbei: die Mehrsprachigkeit lehne ich gerade nicht ab, mir ist im Gegenteil der Gedanke unbehaglich, daß es bald nur noch eine Sprache auf der Welt geben könnte. Oder meinen Sie mit Mehrsprachigkeit etwas ganz anderes?

      „Zunächst einmal haben Sie eine unterschiedliche Vorstellung von „gut“ – für Pierpaolo ist es so etwas wie „funktional, das Sprachsystem sinnvoll ergänzend“, für Sie ist es eher „ästhetisch, aus den richtigen (sozialen) Gründen geschehend“.
“
      Ja, genau. Er hat gut im technischen Sinne (gut wozu) benutzt, ich im moralischen (an sich gut), aber das war mir bewußt, es war Absicht. Ich hatte den Eindruck, daß er von „gut wozu“ auf „gut an sich“ (moralisch gut; ästhetisch kann man da anhängen) schließt und wollte ihm sagen, daß man mit einer gut funktionierenden Sprache (und nur damit hat er argumentiert) noch lange nicht rundum zufrieden sein muß.

      „Für Ihre Behauptung, fast alle Anglizismen hätten ihren Ursprung in Angeberei, kenne ich keine einzige Quelle und ich vermute stark, dass auch Sie eine solche nicht anführen können, es sich also um eine „gefühlte Statistik“ handelt – also etwas, bei dessen Verwendung man sich gerade als Wissenschaftler, egal welcher Disziplin, meiner Meinung nach sehr zurückhalten sollte.“
      Entschuldigung, jetzt muß ich oberlehrerhaft werden. Das ist typisch Student. Man muß nicht durch statistische Erhebungen belegen, daß es im Winter im allgemeinen kälter ist als im Sommer, da reicht das eigene Gefühl durchaus. Natürlich habe ich keine einzige Quelle für meine Behauptung. Ich beobachte vielmehr meine Umgebung und sehe, daß es fast immer so ist. Die Prüfinstanz für meine Behauptung ist die Erfahrung anderer, denen ich meinen für mich überzeugenden Eindruck mitteile (in der Wissenschaftstheorie fällt dieses Verfahren unter „Phänomenologie“).
      Das tue ich hiermit: Achten Sie auf Anglizismen und fragen Sie sich, was die Motivation im jeweiligen Fall ist. Oft können Sie es mit völliger, oft mit einigermaßen ausreichender Sicherheit sagen, manchmal, aber nicht besonders oft bleibt es im Dunklen. Sie werden feststellen: Unter vielen möglichen Beweggründen überwiegt bei weitem der Wunsch, sich als weltmännisch darzustellen, die eigene (vermutete) Provinzialität nicht sichtbar werden zu lassen.
      Ganz genau wie beim Aufgeben des eigenen Dialekts: Ich habe immer, wenn die Frage war, warum ich nicht bei meinem süddeutsch-ländlichen Dialekt bleibe, gesagt: weil man mich dann in der norddeutschen Stadt nicht versteht. Das war natürlich gelogen. Selbstverständlich hätte man mich verstanden, und das wußte ich auch. Ich glaubte statt dessen, mich lächerlich zu machen und redete darum, wie „man“ in der „großen Welt“ redet. Und ich würde jeden Betrag darauf wetten, daß es, wenn man nicht gerade Alemannisch spricht, was wirklich anderswo keiner versteht, bei fast allen so ist wie bei mir. Und daß es mit der Anglifizierung genauso ist.

      „Wäre es Ihrer Meinung nach z.B. besser für eine Sprache, wenn man neue Wörter mit der Motivation einführen würde, etwas für die klassische Bildung der Deutschen zu tun? Die entstehenden Wörter wären zunächst ebenso unverständlich,…“
      Ich weiß nicht, ob die Motivation war, die klassische Bildung zu heben, es könnte schon sein, würde in die damalige Zeit passen, aber bessere Beweggründe sorgen im allgemeinen zumindest für schönere neue Wörter. „Gänsefüßchen“ (Jean Paul) ist einfach schöner als „mehrwegegerechte Wiederbefüllung“ oder „kundenpositiv“. Die Probleme jeder Neuerung, die Sie nennen, bleiben natürlich.

      Fühlen Sie sich bitte nicht gedrängt, zu antworten (obwohl’s schön wäre). Sie sind, hab ich gelesen, Doktorandin und haben damit wichtigeres zu tun als mit x-beliebigen wild- und fachfremden Leuten zu debattieren.

      Beste Grüße

      • Kristin sagt:

        Lieber Herr Trepl,

        oh, es kommt darauf an, wie man „wichtig“ sieht. Für mich ist das nicht ausschließlich das persönliche fachliche Vorankommen und der Austausch mit Gleichgesinnten – wie man vielleicht an diesem Blog merkt, habe ich auch einen gewissen … hm … missionarischen Eifer, den öffentlichen Diskurs über Sprache ein bißchen wissenschaftlicher zu machen.

        So, und da Sie sich unter die Gürtellinie begeben

        Entschuldigung, jetzt muß ich oberlehrerhaft werden. Das ist typisch Student. Man muß nicht durch statistische Erhebungen belegen, daß es im Winter im allgemeinen kälter ist als im Sommer, da reicht das eigene Gefühl durchaus. Natürlich habe ich keine einzige Quelle für meine Behauptung. Ich beobachte vielmehr meine Umgebung und sehe, daß es fast immer so ist. Die Prüfinstanz für meine Behauptung ist die Erfahrung anderer, denen ich meinen für mich überzeugenden Eindruck mitteile (in der Wissenschaftstheorie fällt dieses Verfahren unter „Phänomenologie“).

        kann ich nur antworten: Sie haben doch keine Ahnung. Sie können für Ihr Fachgebiet sicher zweifelsfrei einschätzen, welche Informationen Allgemeingut sind und welche einer wissenschaftlichen Untersuchung bedürfen, aber für die Sprachwissenschaft (und in diesem Fall konkret die Soziolinguistik) können Sie das einfach nicht.
        Ich werde hier gerne als die von Ihnen gewünschte Prüfinstanz tätig und sage Ihnen, dass Ihre Feststellung nichts taugt.

        • Ludwig Trepl sagt:

          Liebe Kristin,

          war das unter der Gürtellinie? Auch, wenn ich mich vorher entschuldigt habe? Dann muß ich mich wohl noch mal entschuldigen. „Keine Ahnung“ hab ich trotzdem nicht.

          Denn es geht hier nicht darum, sich in einer bestimmten Wissenschaft auszukennen, sondern um Alltagserfahrungen. Die „Fachgemeinde“, um deren Zustimmung es geht, besteht in diesem „phänomenologischen“ Verfahren nicht in Leuten, die eine bestimmte Wissenschaft erlernt haben, sondern in denen, die den gleichen Erfahrungshorizont haben wie der, der die fragliche Behauptung aufstellt (alle, die schon mit Anglizismen in Berührung gekommen sind also): an die wendet er sich, die fragt er, ob sie diese Erfahrung auch haben. Wenn nicht, muß er seine Behauptung zurückziehen oder zumindest hinsichtlich ihres Allgemeinheitsgrades revidieren.

          In diesem Fall müßten Sie mir zeigen, daß nach Ihrer Erfahrung die meisten Anglizismen nicht der von mir genannten Motivation entspringen, sondern z. B. deshalb gebraucht werden, weil sie Vereinfachungen ermöglichen, weil sie gewisse Nuancierungen erlauben, die das deutsche Fast-Äquivalent nicht erlaubt, weil es sich um nun einmal eingeführte Fachausdrücke handelt, weil einem beim besten Willen kein deutsches Wort einfällt (wie bei layout) usw.; das gibt es ja alles auch, ich behaupte aber, daß das ziemlich selten eine Rolle spielt.
          Nur bitte ich Sie zu bedenken: Sie sind dafür als Linguistin nicht von vornherein besser qualifiziert als ich oder als ein Elektroingenieur oder ein Bäcker. Die besondere Qualifikation, die allenfalls gefordert ist, ist „Menschenkenntnis“, und die ist unter den verschiedenen Berufsgruppen jedenfalls nicht so verteilt, daß die Wissenschaftler, selbst die in irgendeiner Weise für die Frage mehr zuständigen, unbedingt mehr davon hätten.

          Sie könnten, indem Sie diese Menschenkenntnis bei mir anzweifeln, meine Behauptung gründlicher destruieren als nur dadurch, daß sie zeigen, daß in Ihrer Erfahrungswelt es nicht so ist wie in meiner. Sie müßten dann zeigen, daß ich sozusagen als Prüfinstrument nicht tauge, etwa weil ich zwanghaft immer nur Schlechtes in den anderen vermute. Und da meine Auffassung ziemlich verbreitet, vielleicht die der Mehrheit ist, müßten Sie dieselbe systematische Wahrnehmungsverzerrung auch für einen großen Teil der Leute zeigen. Das ist durchaus möglich, es ist aber keine Aufgabe, für die Linguisten als Linguisten besonders qualifiziert wären.

          Sie schreiben: „Sie können für Ihr Fachgebiet sicher zweifelsfrei einschätzen, welche Informationen Allgemeingut sind und welche einer wissenschaftlichen Untersuchung bedürfen“. Es geht hier nicht um Allgemeingut oder nicht, sondern um die angemessene Art der Untersuchung. Die „phänomenologische“ Untersuchung (ich schreib’s in Anführungszeichen, damit man nicht an die Husserl’sche Philosophie und sowas denkt) ist auch eine Untersuchung, und man kann sie auch auf Dinge anwenden, die keineswegs Allgemeingut sind. Sie ist als Methode gängig in den Geisteswissenschaften und hat gegenüber der empirisch-analytischen (also z. B. statistische Erhebungen) Vorteile und Nachteile, sie ist für manche Fragen besser geeignet, für manche schlechter. Der Hauptnachteil ist der, daß man mit ihr keine „Daten“ bekommt, der Hauptvorteil ist der der weit überlegenen Differenzierungsmöglichkeit. Das Problem kann man heute wohl am besten studieren anhand der Diskussionen um quantitative versus qualitative Sozialforschung, eine kurze Einführung steht im 2. Band der „Einführung in die Wissenschaftstheorie von Seiffert.

          Und noch eine Frage auf Ehre und Gewissen (weil ich Ihnen ihre Ablehnung meiner Behauptung nicht so recht abnehme): Glauben Sie wirklich, daß damals, als das Französische sich in Deutschland ausbreitete, die vorwiegende Motivation von ehrenwerter Art war: im Deutschen gibt es nun einmal kein Wort für das, was die Franzosen Kanapee nennen, also müssen wir auch Kanapee sagen, das es dieses Möbelstück nun einmal gibt, oder: im Französischen kann man viel präziser sprechen? Meinen Sie nicht, einfach aufgrund Ihrer Lebenserfahrung, auch, daß der weit überwiegende Grund war, daß man sprechen wollte wie bei Hofe? Und das soll heute im entsprechenden Fall anders sein?

          Ich werde mich an der Diskussion jetzt nicht weiter beteiligen; nicht weil ich sie nicht interessant fände, aber der Zeitaufwand wird mir allmählich zu groß.

          Viele Grüße

          Ludwig Trepl

  9. Kristin sagt:

    P.S.: An alle Beteiligten nur ein schneller Formatierungshinweis: Zitate kann man in den Befehl <blockquote>hier Zitat einfügen</blockquote> setzen, dann werden die Kommentare vielleicht etwas übersichtlicher.

  10. Oliver Scholz sagt:

    Liebe Kristin,

    zunächst einmal herzlichen Dank! Ich bin gerade erst über den Blogkarneval auf [ʃplɔk] gestoßen und bin begeistert. Ich werd’s ab jetzt gewiss regelmäßig lesen. Gerade den Artikel über „gedenken an“ finde ich extrem spannend.

    ʃap d̥a ma nə fχaʒə … aber zunächst zur Diskussion hier — ich fühle nämlich das Bedürfnis zu markieren, dass es noch eine dritte Position gibt. Und ich hoffe nur, dass ich nicht gegen irgendeine Blogetikette verstoße, wenn ich mich in eine Diskussion einklinke, die nach Internetmaßstäben schon verhältnismäßig alt ist.

    Ich bin der Ansicht, dass ästhetische Urteile, also auch sprachästhetische, durchaus objektiv sind, im Unterschied zu bloßen Geschmacksbekundungen. Das heißt allerdings auch, dass sie anfechtbar sind. Sie sind begründungsfähig, damit aber auch, so sie angefochten werden, begründungsbedürftig. Ästhetische Begründung, wie jede Begründung überhaupt, braucht dabei eine gemeinsame Hintergrundkultur und einen Hintergrunddiskurs.

    Soviele Debatten es auch über Sprache gibt — ich persönlich bin noch nie auf eine sprachästhetische Diskussion gestoßen. So seltsam es klingt: es gibt meines Erachtens *heute* überhaupt keine Auseinandersetzung über Sprachästhetik. Soweit die „Ästhetik“ herbei bemüht wird, geschieht das immer nur ad hoc und ist nie — jedenfalls ich habe es noch nie anders gefunden — etwas anderes als ein verschleiernder Ausdruck für die Korrektheitsvorstellungen des Äußernden. Bestenfalls handelt es sich um bloße Geschmacksbekundungen.

    Was mich dabei besonders nervt, ist, nicht nur, dass dabei ständig metaphysische Vorstellungen von Sprache und Sprachgebrauch im Spiel sind, sondern das ständig (und zwar von allen Seiten, auch von den Kritikern der Sprachnörgler und Anglizismenjäger) die unterschiedlichsten Kontexte/Sprechsituationen, Varietäten, Textgattungen, Stilebenen durcheinander geworfen werden, so als spielte das alles keine Rolle. So als wären englischsprachige Ausdrücke aus der Managementkultur, die in die Politik Einzug halten, das Gleiche, linguistisch und sozialpsychologisch, wie Anglizismen in der Umgangssprache in Alltagssituationen. Als wäre es das Gleiche, ob ich etwa das Wort „grumpy“ in einem lyrischen Gedicht, einem zur Veröffentlichung bestimmten Sachtext oder auf einem Diskussionsforum im Internet verwende oder im Gespräch mit meiner Begleitung nachdem wir beide gerade drei Stunden lang englischsprachige Vorträge gehört haben. Als wäre es das Gleiche, ob jemand „cool“ sagt, ob ein Jugendlicher „die people“ sagt, ob ein Philosoph vom „principle of charity“ spricht oder ein Pressereferent das Wort „proactive“ verwendet.

    Ich bin auch durchaus der Ansicht, das Kulturkritik (was nicht das gleiche ist wie Ästhetik) nötig ist und dass sie sich auch an der Sprache festmachen lässt. Für die Sprache des Dritten Reiches ist dies ja auch überzeugend, auch von Linguisten, gemacht worden. Wenn ich mich der Reklamesprache, dem politischen Jargon oder dem Jargon von PR-Agenturen aussetze, finde ich es ausgesprochen konterintuitiv, dass es nicht möglich sein sollte, an die sprachlichen Phänomene kulturkritisch und ideologiekritisch heran zu gehen. Damit verlässt man allerdings — und darüber muss man sich Rechenschaft ablegen — den engeren Bereich von Sprache als Gegenstand der Linguistik, auch und vor allem methodisch, und begibt sich auf die Gebiete der Philologie, Soziolinguistik, Sozialpsychologie und, horribile dictu, der Philosophie.

    Das ist jetzt länger geworden, als ich es beabsichtigt hatte. S’ist nur … in den Debatten um den Schwachsinn von Leuten des Schlages von Bastian Sick, der ja offensichtlich ein verbreitetes Bedürfnis befriedigt, wird meines Erachtens das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das geht soweit, dass mir manche Gegenpositionen mitunter strukturisomorph zu sein scheinen.

    Man sollte als linguistisch gebildeter Mensch nicht vergessen, dass von einem rein deskriptiven linguistischen Standpunkt, die Positionen eines Bastian Sick und des VDS zunächst ganz wertneutral einfach Teil der Auseinandersetzung einer Sprachgemeinschaft um die Verwendung ihrer Sprache sind. Ob diese Positionen vernünftig sind und ob sie von angemessenen Vorstellungen von Sprache ausgehen, spielt für einen *rein* linguistischen Standpunkt keine Rolle. Was in dieser Perspektive zählt, ist nur ihre Wirkung auf die Sprachverwendung. Dies ist auch insofern nicht ganz unwichtig, als ich den sehr starken Eindruck habe, dass die Sicks dieser Welt ja nicht einfach nur eine bereits bestehende Varietät für maßgeblich erklären und konservieren wollen, sondern dass die maßgebliche Varietät über mehr oder minder selbst ausgedachte Regeln erst geschaffen wird. Das wäre eine sprachwissenschaftliche Untersuchung wert.

    Selbstverständlich kann ein linguistisch gebildeter Mensch nicht bei einem solchen Standpunkt stehen bleiben. Da es sich um unsere eigene Sprache handelt, beziehen wir uns auf diese Debatten immer auch als Sprachteilnehmer. Also präskriptiv.

    (Ich bin selbst kein Linguist, sondern nur Amateur. „Amateur“ aber im eigentlichen Sinne des Wortes, d.h. ich lese linguistische Studien, konsultiere linguistische Einführungswerke und, aufgrund eines poetologischen Interesses, verbringe ich recht viel Zeit damit, in Praat meine Aufnahmen von Alltagssprache anhand von Spektrogrammen zu untersuchen und zu transkribieren.)

    Jetzt ist aber Schluss. Ich hoffe mein „rant“ war nicht zu anstrengend … Wenigstens hab ich’s mir jetzt von der Seele geredet. Zu der Frage, die ich eigentlich bloß stellen wollte:

    Der Verfasser ist evangelischer Pfarrer, es könnte also gut sein, dass er vom lutherbiblischen an beeinflusst wurde. Genauso kann es sich aber um eine neue, davon unabhängige Entwicklung handeln, oder gar einfach um einen Fehler.

    Das betrifft etwas, das ich auch bei vielen angeblichen und tatsächlichen Anglizismen wahrnehme: Das moderne Englisch hat — wie bei einer so nah verwandten Sprache ja auch zu erwarten — viele Ausdrücke und Konstruktionen, die sich zwar nicht in der heutigen Standardvarietät (v. a. in der Schriftsprache der großen Zeitungen) finden, wohl aber in regionalen Varietäten oder in älteren Stufen der deutschen Schriftsprache. Z.B. das oft als Anglizismus geschmähte „erinnern“ mit einfachem Akkusativ, ohne Präposition, kommt meines Wissens regelmäßig z.B. in schweizerischen Varietäten vor.

    Ich habe nun den Eindruck — der unzuverlässig ist und falsch sein kann, weil er sich ebenso gut darüber erklären ließe, dass mich die Sicks dieser Welt dazu verleiten so etwas bloß stärker wahrzunehmen — ich habe nun den Eindruck, dass sich unter dem Einfluss des Englischen solche Formen verstärkt auch in der geschriebenen Sprache wieder finden. D.h. ich fände es plausibel, dass Sprecher/Schreiber Ausdrucksformen ihrer regionalen Varietäten nur dank des Einflusses des Englischen in ihre formelle Schriftsprache einfließen lassen. Ähnliches könnte man für ältere Formen der Schriftsprache behaupten, die ja selbst nie so einheitlich wahr, wie’s sich die Leute einbilden. Als Gedankenexperiment: wäre im Englischen die Schreibung „7 1/2 o’clock“ die verbreitete, dann sähe man heute vielleicht auch vermehrt wieder „7 1/2 Uhr“, dann aber nicht als reiner Anglizismus, sondern als Mittelding zwischen einer Übernahme aus dem Englischen und einer Wiederbelebung einer selten gewordenen Form.

    Nicht das Gleiche, aber ähnlich gelagert: mir ist in meinem Bekanntenkreis das Wort „prokrastinieren“ begegnet. (Was für mein persönliches Sprachempfinden herrlich barock klingt und mir ausgesprochen gut gefällt.) Ich bin zuversichtlich, dass es sich in den betreffenden Fällen um einen Anglizismus handelt, in dem Sinne, dass die Betreffenden das Wort ohne den Einfluss des Englischen nicht in dieser Weise verwendet hätten. Andererseits hatten die Betreffenden auch in der Schule intensiven Lateinunterricht und ich bezweifle auf der anderen Seite, dass Sie es ohne diesen Hintergrund, als „reinen“ Anglizismus, zugelassen hätten.

    Gibt es sprachwissenschaftliche Untersuchungen in dieser Richtung?

    • Kristin sagt:

      Lieber Oliver,

      vielen, vielen Dank für diesen langen Kommentar! Etiketteverstoß: Quatsch. Die Diskussion ist zwar etwas versandet, ich wage zu behaupten, weil die Teilnehmer sich nichts mehr Neues zu sagen hatten, dass aber noch Neues sagbar ist, hast Du ja gezeigt.
      Ich habe leider in den nächsten Tagen kaum Zeit für eine angemessen durchdachte und ausführliche Antwort – sie kommt aber garantiert, ich schätze mal übernächste Woche. Wir sprechen uns also noch! :)

    • Kristin sagt:

      Sooo, jetzt habe ich endlich ein bißchen Zeit.
      Du schreibst

      Ich bin der Ansicht, dass ästhetische Urteile, also auch sprachästhetische, durchaus objektiv sind, im Unterschied zu bloßen Geschmacksbekundungen.

      Hättest Du vielleicht ein Beispiel für ein solches ästhetisches Urteil? Ich kann mir darunter nichts vorstellen.

      Was mich dabei besonders nervt, ist, nicht nur, dass dabei ständig metaphysische Vorstellungen von Sprache und Sprachgebrauch im Spiel sind, sondern das ständig (und zwar von allen Seiten, auch von den Kritikern der Sprachnörgler und Anglizismenjäger) die unterschiedlichsten Kontexte/Sprechsituationen, Varietäten, Textgattungen, Stilebenen durcheinander geworfen werden, so als spielte das alles keine Rolle.

      Stimme ich absolut zu, ist aber vielleicht ganz generell ein Problem des Diskurses von Laien, egal welches Thema – zu viele potenzielle Einflussfaktoren, wenn man die alle berücksichtigt, dauert es ziemlich lange, bis man was zum Thema sagen kann.
      Auf der wissenschaftlichen Ebene berücksichtigt man solche Dinge ja dann schon.

      Man sollte als linguistisch gebildeter Mensch nicht vergessen, dass von einem rein deskriptiven linguistischen Standpunkt, die Positionen eines Bastian Sick und des VDS zunächst ganz wertneutral einfach Teil der Auseinandersetzung einer Sprachgemeinschaft um die Verwendung ihrer Sprache sind.

      Die Wirkung solcher populärer Laienmeinungen auf die Sprachverwendung würde ich als ziemlich gering einschätzen – das meiste passiert einfach derart unbewusst … und dass ich mir mühevoll das Fugen-s in Stellungnahme abtrainiert habe oder jemand sich furchtbar anstrengt, nicht das macht Sinn zu sagen, hmja, finde ich ehrlichgesagt nicht so furchtbar spannend.
      Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es dazu Untersuchungen gibt (vielleicht nicht mit Sick und VDS, sondern eher mit älteren solchen Phänomenen), ich kenne nur keine.

      Zur eigentlichen Frage:
      Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Sprachwandel durch Sprachkontakt, wenn er dann über die reine Entlehnung einzelner Wörter hinausgeht, zunächst bevorzugt Strukturen ergreift, die in der Nehmersprache auch vorkommen, aber z.B. nur marginal sind oder eine leicht abweichende Funktion gegenüber der der Nehmersprache haben.
      Ist eine sehr schwierige Geschichte, denn wie will man nachweisen, dass der Wandelprozess wirklich durch Sprachkontakt angestoßen wurde? Da gibt es schon ein paar Anhaltspunkte (z.B. wenn die neue Verwendung zunächst in einem bi- oder multilingualen Personenkreis auftritt und sich dann allgemein verbreitet, oder wenn sie besonders oft in Übersetzungstexten o.ä. auftritt, …), aber oft ist das kaum mehr rekonstruierbar.
      Ich bin mir ziemlich sicher, dass das in dem generell sehr empfehlenswerten Buch Language Contact von Thomason erwähnt wird, oder vielleicht in Thomason/Kaufman Language contact, creolization, and genetic linguistics. Ich schau heute Abend mal, ob ich die Stelle spontan finde.

  11. K. sagt:

    Entschuldigung, daß ich so spät hier noch etwas beitrage, aber ich bin erst jetzt auf diesen Beitrag gestoßen. Ein Punkt hat mich überrascht, nämlich die Aussage:

    Nicht gerechnet hatte ich mit einem blanken Akkusativ, aber seht selbst (besonders beliebt war das wohl mit es):

    ich gedenks wol.
    ‘ich erinnere mich gut daran’

    Überrascht deswegen, weil „es“ hier ja gerade kein Akkusativ ist, sondern Genitiv, vgl. „Ich bin es zufrieden.“ etc. D. h. dieses Beispiel bestätigt eigentlich gerade die normale Verwendung von „gedenken“ mit Genitiv.

    K.

    • Kristin sagt:

      Hm, nein, der Genitiv von es wäre seiner, vgl. z.B. hier ;)

      • K. sagt:

        Hm, doch. ;)

        Zugegeben, die alte Genitivform „es“ ist heute veraltet und verdrängt durch „sein“, bzw. noch neuer „seiner“, die eigentlich aus dem Reflexivpronomen stammen. Allerdings ist wohl die ganze Fügung „ich gedenk’s wohl“ heute kaum mehr zeitgemäß. Die Analyse sollte daher auf den seinerzeitigen Sprachstand abstellen.

        Jedenfalls ist das „es“ in dieser und in ähnlichen heute veralteten Ausdrücken nicht als Akkusativ zu verstehen. Es ist in der Tat die alte Genitivform von „es“, vgl. mhd. N. ez, G. es, ahd. N iz, G. es. Allerdings dringt bereits im Mittelhochdeutschen „sin“ aus dem Reflexivum ein, hat den alten Genitiv „es“ im Falle des männlichen „er“ bereits mehr oder weniger verdrängt und beginnt auch ins Neutrum einzudringen.
        In den besprochenenen altertümlichen (nhd.) Wendungen repräsentiert „es“ aber auf jeden Fall noch die letzten Reflexe der alten Genitivform!

        Ich habe im Moment nicht die Zeit, im Internet danach zu kramen, aber vgl. z. B.
        – Duden, Band 4, Grammatik, Ausgabe 1966, S. 251, Randzahl 2615
        – Duden, Richtiges und gutes Deutsch, Ausgabe 1985, S. 237, s.v. es, Punkt 3
        – Seidel/Schophaus, Einführung in das Mittelhochdeutsche, 2. Aufl., 1994, S. 174
        – Heinz Mettke, Mittelhochdeutsche Grammatik, 3. Aufl., 1985, S. 166, § 106
        – Karl Helm, Abriß der Mittelhochdeutschen Grammatik, 2. Aufl., 1961, S. 37, § 92
        – Wilhelm Braune, Abriß der Althochdeutschen Grammatik, 9. Auflage, S. 56, § 71
        Tut mir leid, daß ich nicht die zeitgemäßen Auflagen bei der Hand habe, aber ich denke, der Argumentation tut dies keinen Abbruch.

        • Kristin sagt:

          Interessant – vielen Dank für den Hinweis!
          Dann wäre das auch im DWB schon falsch/uneindeutig eingeordnet, woher ich sowohl das Beispiel als auch die grammatische Klassifizierung habe (unter 6c für die Bedeutung ’sich erinnern‘):

          aber auch mit acc., zunächst bei es, das u. ä.

          Dass es ambig sein konnte, wussten die aber durchaus (hab ich beim Schreiben des Artikels überlesen, steht bei 5d für die Bedeutung ‚erwähnen‘):

          der acc. schlich sich ein durch es, worin gen. und acc. ins verschwimmen kamen

          Zweifelsfrei mit Akkusativ findet sich aber:

          gelangten wir … nach Küsznacht, wo wir landend … die Tellen-capelle zu begrüszen und jenen der ganzen welt als heroisch-patriotisch-rühmlich geltenden meuchelmord zu gedenken hatten.
          Göthe 48, 134 (aus m. l. 19)