1642: Das Jahr, da die teusch Sprach verderbt war

Wusstet Ihr, dass das Deutsche schon kaputt ist? Ich bin mir auch nicht sicher, wie es der wachsamen Öffentlichkeit entgehen konnte, aber im Jahr 1642 spätestens war alles verdorben. Warum und wie? Aber ja, die leidigen Fremdwörter haben die Sprache versaut und dafür gesorgt, dass man sich nicht mehr verständigen konnte. So zu lesen in diesem wunderbaren Gedicht auf Wikisource. Es richtet sich

Wider alle Sprachverderber / Cortisanen / Concipisten vnd Concellisten / welche die alte teuotsche Muttersprach mit allerley frembden / Lateinischen / Welschen / Spannischen vnd Frantzösischen Wörtern so vielfältig vermischen / verkehren vnd zerstehren / daß Sie jhr selber nicht mehr gleich sihet / vnd kaum halber kan erkant werden.

Schlümm, schlümm.

Was haben wir noch?

Nach diversen Beschimpfungen geht es dann in Strophe 6 los mit einem Fremdwort-ABC. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, die verhassten Wörter zu extrahieren und zu schauen, wie es heute um sie steht. Von 294 Fremdwörtern und -wendungen haben wir (je nach zugrundegelegter Wortliste1) etwas mehr als ein Drittel behalten (116 bzw. 111).

Welche Rolle spielen sie?

Die Überlebenden sind zwar meist noch als Fremdwörter zu erkennen, haben sich aber heute super integriert. (Teilweise auch mit drastischen Bedeutungsveränderungen.) Viele gehören in spezifische Bereiche, wie z.B. zum Militär:

Kapitän, Armee, Kommandant, Offizier, Flotte, Armada, Rebell, blockieren, Allianz, Quartier, attackieren, marschieren, …

und zur nahe verwandten Politik:

Präsident, Partei, Parlament, regieren, …

Nach den Frequenzangaben meiner beiden Wortlisten sind die folgenden Wörter ganz oben mit dabei:

Prozent, Präsident, Partei, Parlament, Liga, Qualität, Kapitän, Armee, Information, Dame, regieren, Favorit, Kredit.

Das Prozent ist nach DeReWo ganz grob so häufig wie z.B. seine beiden Mitfremdwörter Euro und Million, aber auch wie alt, bringen und Mensch.2

Was gibt’s nicht mehr?

gaudieren ’sich ergötzen, belustigen, erfreuen‘,
caualcada ‚Expedition zu Pferd‘,
approchiren ’näherkommen; sich an etw. (eine Festung) herangraben‘

Der Rest ist mehr oder weniger passé, umfasst aber auch einzelne Wörter, die es heute noch – oder wieder! – in sehr engen Kontexten gibt, z.B. movieren (das ist der Vorgang, bei dem man aus einer Männer- eine Frauenbezeichnung macht, z.B. mittels angehängtem –in). Bei einzelnen Wörtern (ca. 7) habe ich statt der angegebenen Form ihre Basis oder eine Ableitung gewertet, z.B. Parlament statt parlamentieren und einquartieren statt quartieren, wenn man ganz streng sein will, muss man sie also auch der Gibts-nicht-mehr-Gruppe zuschlagen.

A propos Gibts-nicht-mehr-Gruppe: Der Verdacht liegt nahe, dass es sich teilweise auch um eine Gab-es-nie-Gruppe handelt. Das Phänomen kennt man ja heute noch: man denkt sich zur besseren Argumentation bedrohliche Fremdwörter aus, die in Wirklichkeit gar nicht genutzt werden. Ich habe für die Wörter mit A mal ins große Frühneuhochdeutsche Wörterbuch geschaut und alle gefunden, aber wer weiß, vielleicht ist die Quelle für die Lemmata ja auch das Gedicht hier? (Viele verweisen als einzige Quelle auf A Lexicon of French Borrowings in the German Vocabulary (1575-1648) von Jones. Wir haben das, ich geh da demnächst mal gucken.)

Und die Moral?

Jagut. Irgendwie langweilig, ne? Was wir brauchen konnten, ist geblieben und unentbehrlich geworden, was wir nicht brauchen konnten, ist an Vernachlässigung gestorben. Das Deutsche ist nicht zu einer romanischen Sprache geworden. Seit damals hat sich sprachlich zwar viel verändert, aber der Wortschatz ist meiner Meinung nach eher ein Nebenschauplatz, mehr oder weniger Kosmetik. In 400 Jahren wird wahrscheinlich jemand sehr amüsiert über sowas sprachbloggen.

Fußnoten:

1 Ich habe die Wörter im Leipziger Wortschatz (über 100.000 Einträge) und in der DeReWo des IDS (Grundformliste, 40.000 Einträge) nachgeschlagen.

2 DeReWo hat Häufigkeitsklassen von 0 bis 17 nach absteigender Häufigkeit. Dabei wird die Häufigkeit in Bezug auf das frequenteste Wort berechnet. Prozent ist in Klasse 7, d.h. das frequenteste Wort ist 2 hoch 7 mal so häufig wie die Wörter dieser Klasse. (Die Rechnung geht immer “n hoch Klassenzahl”.) Klasse 7 ist auch die erste Klasse, die überhaupt Fremdwörter enthält – 3 Stück von insgesamt 58 Wörtern.
Die Häufigkeit bemisst sich aber natürlich nur an den untersuchten Texten, und das sind sehr viele Zeitungstexte. In einem Belletristikkorpus könnten die Zahlen schon wieder ganz anders aussehen, und erst recht in einem gesprochensprachlichen Korpus – da wäre wohl kaum damit zu rechnen, dass alt und Prozent gleich frequent sind.

6 Responses to 1642: Das Jahr, da die teusch Sprach verderbt war

  1. Achim sagt:

    Wusste schon meine Literaturdozentin in Edinburgh: „Things are no longer what they never were.“ Alles wird immer schlechter. Nur komisch, dass sich die Welt noch dreht.

  2. janwo sagt:

    Oh ja, diese Sprachverderbung. Eigentlich wäre das mal ein prima Dissertationsthema, quellenmäßig nachzuverfolgen, seit wann unsere Sprache eigentlich schon im Eimer ist. ;)

  3. suz sagt:

    Der erste Satz. Preisverdächtig. Sehr gelacht.

  4. André M. sagt:

    Hallo Kristin,
    Ein toller Artikel! Habe mir den Link gespeichert. :)

    Und ein Vorschlag für ein nächstes Untersuchungsthema: in den südlichen deutschen Dialekten (einschließlich des Obersächsischen) werden vor Personennamen praktisch immer die definiten Artikel benutzt: die Kristin, der Achim, der Jan, der André usw. — im Norden Deutschlands nicht, dort hat der Artikel vor Namen entweder eine herablassende Wirkung oder bezieht sich irgendwie auf eine berühmte Persönlichkeit (die Callas), siehe Wikipediaeintrag zu Eigennamen.
    Meine Frage ist, seit wann ist das schon so (im Althochdeutschen hieß es jedenfalls noch Phol ende Uuodan ohne Artikel)? Wie ist die Nord-Süd-Distribution zu erklären, also wie kam das historisch zustande?
    Denkst du, du kannst darauf ’ne Antwort finden? :)

    Viele Grüße aus dem fernen China (weswegen ich auf der nächsten StuTS in Leipzig leider nicht dabeisein kann),
    – André

  5. Nicht, dass es am grundsätzlichen Befund etwas ändern würde – aber caualcada gibt es heute noch als Kavalkade. Ist aber wohl kein Top-100-Wort der verderbten teuschen Sprache. ;)